Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
aufgewachsen, nie hatte er woanders gewohnt. Wenn Emil neben Sebastian lag, erzählte er nichts von seinen Nächten. Sie horchten der Stille nach, sie warf kein Echo zurück.
Auf die Frage, wie er es in diesen vier Wänden bloß aushalte, und schon so lange, zuckte Sebastian nur mit den Achseln und murmelte: »Ach ja, meine Mutter.«
»Ich könnte das nicht«, hatte Emil gesagt, und für einige Sekunden war die Luft aus dem Zimmer wie aus einem undichten Ball entwichen. Was konnte er nicht? Das Leben führen, das Sebastian führte, oder das, was er führte, was sie beide führten? Er kam nicht darauf zurück, obwohl ihm der Ort, an dem sie sich trafen, immer weniger behagte.
Manchmal dachte Emil, daß das, was sie taten, eines Tages unter dem dumpfen Ansturm der Dinge, über die sie nicht sprachen, erstickt werden würde wie ein zerstörerischer Brand, der, einmal entflammt, daran gehindert werden mußte, sich auszubreiten. Sie sprachen nicht darüber, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Sie sprachen kaum je über das, was außerhalb der vier Wände geschah, in denen sie sich trafen, umgeben von den vielen Objekten, die Sebastian nicht wegwarf, obwohl sie seinem Alter schon lange nicht mehr entsprachen.
Sie schoben den Gedanken, etwas an ihrer aussichtslosen Lage zu verändern, immer wieder hinaus, bis es so aussah, als sei sie gar nicht zu ändern. So wenig, daß sie nicht einmal darüber zu sprechen wagten.
Emils Leben schien sich mehr und mehr auf ihre Verabredungen zu reduzieren, ein paar Stunden pro Woche, die ihnen zur Verfügung standen, um alles zu tun, was ihnen wichtig war. Was davor und danach geschah, war nicht so bedeutsam.Veronika war unterdessen mit ihrer Schwangerschaft beschäftigt.
Eines Nachmittags, als ich von der Schule kam, wartete meine Mutter auf mich. Das war nicht üblich. Wortlos übergab sie mir einen Umschlag. Mir war klar, daß sie wußte, von wem der Brief stammte, denn Andrés Name und Adresse waren nicht zu übersehen. Sie zog die Hand nicht sofort zurück, sondern wartete. Erstaunlich genug, daß sie den Brief nicht auf die Kommode gelegt und es mir überlassen hatte, mit ihr darüber zu sprechen oder, wie ich es mir in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht hatte, darüber zu schweigen. Ihre Hand verharrte einen Augenblick über dem Umschlag, den ich an mich genommen hatte, und erstaunlicherweise setzte sie nun zu einem Satz an. Aus irgendeinem Grund war sie aber außerstande, ihn auszusprechen. Langsam ließ sie die Hand sinken.
Statt mich wortlos in mein Zimmer zurückzuziehen, wie ich es seit Tagen tat, sagte ich: »Von André, meinem Patenonkel, aus Paris«, und in ihren Ohren muß das wie ein Signal geklungen haben, das besagte, daß ich bereit sei, über das zu sprechen, was mich seit Wochen beschäftigte. Sie reagierte darauf, indem sie leise sagte: »Der Freund deines Vaters«, als ob ich das nicht wüßte oder als wollte sie mir zu verstehen geben, daß sie verstand, worum es ging, viel besser als ich.
Ich nickte und wiederholte: »Der Freund.«
»Was willst du wissen?«
Wie benommen standen wir einander gegenüber.
Und plötzlich fiel es mir nicht mehr schwer, ihr von meiner Entdeckung in der Universitätsbibliothek zu erzählen, und sie tat nicht überrascht, nicht so überrascht jedenfalls, daß es nötig gewesen wäre, ihr die Annonce zu zeigen,die ich aus der Zeitung herausgerissen hatte. Ich erwähnte beide Todesanzeigen, nicht bloß die meines Vaters, auch die eines anderen jungen Mannes namens Sebastian Enz, und sie sagte: »Der Junge.« Dann verstummte sie.
»Was haben die beiden Anzeigen miteinander zu tun«, fragte ich. Sie schien weitere Fragen abzuwarten. »Sie haben doch etwas miteinander zu tun, die jungen Männer und die Anzeigen«, sagte ich. Sie nickte, und das war eine unmißverständlichere Zustimmung, als jede Antwort es gewesen wäre.
Sie drehte sich langsam von mir weg in Richtung Wohnzimmer. Ich sollte ihr folgen, und ich tat, wozu sie mich aufforderte. So weit verstanden wir uns immer noch. Ich ging in ihrem Schatten in den Garten, und in ihrem Rücken fiel mir plötzlich auf, wie klein sie war, wie schmal der Schatten, den sie warf, wie schwach sie wirkte, wie schleppend sie ging. Wie alt war sie? War sie so alterslos, wie sie mir schien, der ich selbst zu jung war, um das Alter von Erwachsenen einigermaßen exakt zu bestimmen? War ich in den letzten Wochen gewachsen, oder nahm ich sie jetzt anders wahr als bislang, zerbrechlicher und
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