Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
niemals wissen würde. Das Glas hatte Dinge gespiegelt, die meinen Vater unmittelbar betrafen. Es hatte zu ihm gehört wie es in Zukunft zu mir gehören würde.
»Ich werde sie mir genau anschauen und reinigen und alles tun, was nötig ist, wenn es denn nötig ist. Ich glaube nicht, daß etwas ersetzt werden muß. Du kannst übermorgen vorbeikommen und sie abholen.« Dennoch hinterließ ich meine Telefonnummer für den Fall, daß die Reparatur länger dauern sollte.
Das Leben nahm seinen gewohnten Gang. Nach außen hatte sich nichts geändert. Die Ferien waren vorbei, ich ging wieder zur Schule, Roland setzte mich zweimal die Woche morgens vor dem Schulhaus ab, an den anderen Tagenfuhr ich wie üblich mit dem Fahrrad hin. Roland sprach so selbstverständlich über meinen Abstecher nach Paris, als ob er mit seiner Einwilligung erfolgt wäre. Was ich dort erlebt und erfahren hatte, behielt ich für mich, als wäre ich nie fort gewesen. Er war rücksichtsvoll und zurückhaltend, ich war distanziert und nicht besonders freundlich. Er machte mir nicht einmal Vorwürfe, meiner Mutter, deren Ängste ihn nicht kaltlassen konnten, Sorgen bereitet zu haben. Er wäre jederzeit auf meine Probleme eingegangen, wenn ich ihn eingeweiht hätte. Doch eher hätte ich mich einem Fremden anvertraut als dem Menschen, der mich im Gegensatz zu meinem Vater nie verlassen und auf keine Weise je gequält hatte.
Obwohl mein Ansehen in den Augen meiner Schulkameraden zweifellos gestiegen wäre, wenn ich ihnen erzählt hätte, daß ich während der Ferien von zu Hause weggelaufen war, ohne anzukündigen, wohin, schwieg ich darüber. Ich wußte zuviel und zuwenig. Ich wollte mein Wissen sowenig teilen wie meine Unkenntnis. Meiner Mutter ging ich aus dem Weg. Auch sie suchte meine Nähe nicht. Wir umkreisten uns wie feindselige Katzen, die jederzeit zum Sprung bereit sind, auch zur Versöhnung.
Es stellte sich heraus, daß die Seamaster in einem guten Zustand war. Es hatte genügt, sie einer gründlichen Reinigung zu unterziehen, um sie wieder herzurichten. Zwei Tage später begab ich mich wie verabredet ein weiteres Mal in Rentschs Laden. Er übergab mir die Uhr und verlangte fünf Franken. »Ein symbolischer Betrag«, wie er sagte. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was er für seine Arbeit tatsächlich hätte verlangen können.
Er hatte die Uhr innen gereinigt und außen poliert. Er hatte das alte Lederband, an dem ich ebenso hing wie an den Kratzern auf dem Glas, in verflüssigtes Fett gelegt und daraufgeachtet, daß dieses nicht hart wurde, und so fühlte es sich nun wieder elastisch und weich an.
»Du kannst sie jetzt immer tragen, Tag und Nacht, du wirst sehen, sie ist robust, sie hält eine Menge aus, und du wirst sie eine Weile nicht mehr vorbeibringen müssen«, erklärte Rentsch und behielt recht. Heute, mehr als dreißig Jahre später, da ich sie nur noch selten trage, hat sie nichts von ihrer Präzision eingebüßt, obwohl ich sie seither nur einmal habe revidieren lassen, und nicht etwa deshalb, weil es wirklich nötig gewesen wäre, sondern weil ich das Bedürfnis verspürte, Rentsch zu sehen. Doch mußte ich feststellen, daß er den Laden einem jüngeren Nachfolger überlassen hatte, der keine Ahnung hatte, was aus seinem Vorgänger geworden war.
Er hatte ihn seit dem vergangenen Abend nicht mehr gesehen, er wußte nicht, in welchem Zimmer er wohnte, er wußte nicht, was er vorhatte, er wußte nur, daß er einen Weg gefunden hatte, ihn wiederzusehen. Den einfachsten, der zugleich die listigste Lösung war. Den kürzesten, der vielleicht der gefährlichste war. Emil hatte nicht im Traum daran gedacht, Sebastian könnte ihm nachreisen, nicht im Traum zu hoffen gewagt, ihm so bald so nah zu sein. In der folgenden Nacht hatte er schlecht geschlafen, sich unruhig hin und her geworfen, darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen, und tatsächlich war Veronika nicht aufgewacht.
Emil achtete darauf, sich beim Frühstück nicht allzu oft und nicht allzu auffällig nach Sebastian umzusehen, doch er ließ sich nicht blicken.
Er fragte sich, ob er überhaupt im selben Hotel logierte. Möglicherweise war er gestern abend nur deshalb auf die Terrasse des Midi gekommen, um Ausschau nach Emil zu halten, nicht etwa, weil er dort wohnte. Zu gefährlich so nah,zu verräterisch. Wie konnten sie miteinander in Kontakt treten? Die Freude über ein Wiedersehen wich allmählich der Angst vor zahllosen Hindernissen.
Gegen elf Uhr begaben sich
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