Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Emil und Veronika zum Strand, der schon voll war, und belegten einen Platz in der Nähe des Wassers. Selbst weiter von dort entfernt, wo sie sich lieber hingelegt hätten, war keine Stelle mehr frei. Sie zogen sich aus, legten ihre Kleider zusammen und machten es sich auf ihren Handtüchern bequem, Veronika legte sich auf den Rücken und entfaltete ihre Illustrierte, Emil legte sich auf den Bauch, unfähig zu lesen, schloß er die Augen.
»Willst du nicht lesen?« »Nein.« »Willst du lieber schlafen?«
Er antwortete nicht, vielleicht deshalb, weil ihre Frage in seinen Ohren vorwurfsvoll klang. Zu sagen, er wolle ungestört über etwas nachdenken, traute er sich nicht.
Die Bilder, die nun an ihm vorüberzogen, waren nicht geeignet, ihn zu beruhigen. Er hätte im Zimmer bleiben und auf ein Zeichen Sebastians warten sollen, der seine Zimmernummer mit Leichtigkeit in Erfahrung bringen konnte, um sich dann mit ihm in Verbindung zu setzen. Er sah ihn vor sich, wie er vor seiner Zimmertür stand und wieder und wieder anklopfte, erst verhalten und zögernd, dann heftig und schließlich enttäuscht, wie er sich ängstlich umsah, ob ihn nicht eines der Zimmermädchen bei seinem Treiben beobachtete, bevor er sich niedergeschlagen zurückzog. Emil stellte sich vor, wie Sebastian später in seinem Hotelzimmer saß und sich mehrmals und stets erfolglos mit Emils Zimmer verbinden ließ. Wie lange würde es dauern, bis dem Portier ein Licht aufging? Wie lange, bis Sebastian aufstand und den Hörer auflegte, um nie mehr anzurufen, nie mehr, weder heute noch morgen noch in vier Wochen, entschlossen, nach Hause zurückzukehren,bitter enttäuscht, nachdem Emil keinen Finger gerührt hatte, um ihn ausfindig zu machen, zu sehen, zu sprechen? Zu feige. Collioure war schließlich nicht Paris, es war ein Dorf, in dem man mühelos aufstöbern konnte, was und wen man suchte, wenn man nur wollte. Wenn man nur wollte! Je länger und nervöser Emil diese und eine Menge andere Möglichkeiten in Betracht zog und je öfter er sich die unverhoffte Begegnung vom Vorabend durch den Kopf gehen ließ, desto zwingender und niederschmetternder wurde das Gefühl, sich dieses Wiedersehen bloß gewünscht, herbeigesehnt und eingebildet zu haben.
Sicher war der junge Mann ein anderer gewesen als der, für den er ihn gehalten hatte. Nicht Sebastian, sondern irgendeiner, der ihm aus der Entfernung ähnlich sah, eine Erscheinung, die der näheren Betrachtung nicht standgehalten hätte, ein ungefährer Doppelgänger. Überzeugend, aber nicht echt. Es war dunkel gewesen, und er hatte getrunken gehabt. Er war betrunken gewesen und hatte sich bereitwillig täuschen lassen. Schatten waren nicht nur über seine Seele gekrochen, sie hatten wohl auch seinen Blick getrübt. Alles nur Täuschung. Er war vor lauter Sehnsucht nach Sebastian einer peinlichen Verwechslung erlegen. Der Alkohol und die vielen Leute hatten den Irrtum begünstigt, doch die Quelle des Wahnbilds waren seine absurden Hoffnungen. Und seine Verliebtheit.
Dann war er in der prallen Sonne eingeschlafen.
Als er die Augen aufschlug, blickte er in Sebastians Augen. Er träumte. Nein, er träumte nicht. Er wäre beinahe aufgesprungen. Er hätte beinahe geschrieen. Es gelang ihm, gefaßt zu bleiben. Keine zwei Meter von ihm entfernt lag Sebastian auf Augenhöhe und blickte ihn an. Wie lange lag er schon dort, betrachtete ihn und wartete, daß er sich regte, die Augen öffnete und ihn erkannte? Genau indem Augenblick, als Emil begriffen hatte, daß es kein Traum war, daß er nicht schlief und keiner Täuschung erlag, verzogen sich Sebastians Lippen zu einem breiten Lächeln. Wie gut es tat, ihn bei sich zu wissen. Emil bewegte sich nicht. Niemand sollte merken, was hier geschah. Niemand war Veronika. Das unvorhergesehene Rendezvous vollzog sich stumm. Zwischen dem, der es arrangiert, und dem, den er damit überrascht hatte, war nichts als Sand und Himmel, eine minimale Entfernung von höchstens zwei Metern feinem Untergrund – und ringsherum Hunderte von blinden Beobachtern.
Veronika lag auf der Seite. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie merkte nicht, daß Emil inzwischen wach war. Und selbst wenn sie es bemerkt hätte, wäre sie doch unendlich weit von der Wahrheit entfernt gewesen. Sebastian sah ihn unverwandt an. Er hatte ihn gesucht und gefunden. Nachdem er eine weite Reise hinter sich gebracht hatte. Die Überraschung war vollkommen. Bei dem Gedanken, ihn so nah zu haben, vielleicht
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