Zur Leidenschaft verfuehrt
Glanz, der dazu einlud, sie zu berühren. Charley hob die Hand und fuhr leicht über die Stellen, wo Raphaels Hand gelegen hatte. Als ihr bewusst wurde, dass sie versuchte, sich mit seinen Augen zu sehen, erstarrte sie. Hatte sie den Verstand verloren? War die Situation nicht so schon kompliziert genug?
Energisch rief sie sich zur Ordnung und ermahnte sich zur Eile. Wenn sie pünktlich sein wollte, blieb ihr nicht mehr viel Zeit.
Zehn Minuten später musterte Charley die Jeans, in die sie eben geschlüpft war. Die Hose saß perfekt, gar kein Vergleich mit ihrer eigenen. Der enge Schnitt betonte ihre langen Beine und die schlanken Hüften.
Ohne lange zu überlegen, beschloss sie, T-Shirt und Lederjacke auch noch anzuprobieren. Sprachlos über ihre Verwandlung musterte sie sich im Spiegel. Sogar ihre Haare waren plötzlich anders. Irgendwie wirkte sie in den neuen Sachen viel weiblicher, aber bestimmt war das Einbildung. Sie sah nur, was sie sehen wollte – wegen Raphael. Weil sie ihn begehrte, selbst wenn es noch so abwegig und gefährlich war.
Ungehalten über sich selbst, griff sie nach dem dunkelbraunen Samtband, das die in Seidenpapier eingeschlagenen Kleidungsstücke zusammengehalten hatte, und band sich damit das Haar im Nacken zu einem Zopf zusammen. Sie musste sich beeilen, sonst würde Raphael ungeduldig werden und womöglich wieder an ihre Tür kommen, und das wollte sie nicht. Oder doch? Was für ein Unsinn! Verärgert nahm Charley ihre Tasche und verließ eilig das Zimmer.
In dem Moment, in dem sie den Flur betrat, wo auch Raphaels Arbeitszimmer lag, öffnete sich seine Tür, und Raphael stand auf der Schwelle. Er bedeutete ihr mit einem flüchtigen Nicken, dass er sie gesehen hatte, dann ging er, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, mit langen Schritten zum Vordereingang.
Was hatte sie erwartet? Charley beeilte sich, damit er nicht auf sie warten musste. Hatte sie sich gewünscht, dass er eine Bemerkung über ihr Aussehen machte? Oder gar ein Kompliment? Ganz bestimmt nicht. Für solche Torheiten war sie viel zu vernünftig, und das leicht bleierne Gefühl im Magen hatte nichts mit Enttäuschung zu tun, sondern höchstens mit dem Croissant, das sie vorhin gegessen hatte.
Raphael wartete bereits neben dem Ferrari und hielt ihr die Beifahrertür auf. Nachdem Charley eingestiegen war, schlug er wortlos die Tür zu und ging um das Auto herum auf die Fahrerseite.
Das Fahrzeug federte kurz, als er einstieg und hinters Steuer glitt. Er schob den Zündschlüssel ins Schloss und startete. Im Innenraum des Wagens roch es nach von der Sonne aufgeheiztem teuren Leder, aber in der Luft hing noch ein anderer Duft, den Charleys Sinne Raphael zuordneten.
Wenig später waren sie am Stadtrand angelangt. In einiger Entfernung konnte Charley die Ruinen einer mittelalterlichen, von einem Schutzwall umgebenen Burg erkennen, deren alte Steinmauern mattrosa in der Sonne leuchteten. Ein einzelner verfallener Turm ohne Dach ragte in den Himmel.
„Was ist mit der Burg passiert?“, erkundigte sie sich neugierig.
„Sie wurde angegriffen und belagert, genauso wie die Stadt. Das feindliche Heer war übermächtig, aber meine Vorfahren hatten das Glück, dass ihnen Freunde von außerhalb zu Hilfe eilten. Mit deren Unterstützung gelang es, den Feind zurückzuschlagen. Das rettete zwar die Stadt und das Leben meiner Ahnen, aber die Burg war so zerstört, dass sie nicht zu halten war. Aufgrund dieser Erfahrung beschloss der damalige Graf, die neue Burg in größerer Entfernung von der Stadt zu bauen.“
Charley nickte und schaute sich um, während sie durch ein Tor in der mittelalterlichen Stadtmauer in die Stadt fuhren.
Die windschiefen alten Häuser zu beiden Seiten der engen Straßen standen dicht aneinandergelehnt, fast so, als wollten sie sich gegenseitig stützen. An den Straßenkreuzungen überflutete die Sonne das Kopfsteinpflaster mit ihrem goldenen Licht. Hoch über ihren Köpfen flatterte Wäsche im Wind an Leinen, die zwischen den Häusern gespannt waren. Ab und zu erlaubte ein geöffnetes schweres Holztor einen Blick auf einen sonnigen Innenhof.
Vor einer Bäckerei stand eine Gruppe schwarz gekleideter Frauen mit faltigen Gesichtern zusammen. Die Frauen plauderten eine Weile, bevor sie sich umwandten und gemeinsam in Richtung Piazza Grande marschierten. Charley konnte den Duft nach frischem Brot und Kräutern riechen, der ihren Körben entströmte.
Die Piazza wurde von einem kunstvoll verzierten
Weitere Kostenlose Bücher