Zur Leidenschaft verfuehrt
steinernen Brunnen dominiert, und gegenüber dem Rathaus war ein großer freier Platz, wahrscheinlich ein Marktplatz, wie Charley vermutete, obwohl heute keine Stände da waren. Deshalb hatte sie einen freien Blick auf eine große Adlerstatue.
„Der Adler ist Teil unseres Familienwappens“, erklärte Raphael, während sein Blick ihrem folgte. „Der Legende nach soll dieser Landstrich hier ursprünglich einem römischen Legionär gehört haben, der ihn von Cäsar geschenkt bekam, nachdem er diesem im Krieg das Leben gerettet hatte. Dieser Vorfahr hat den Kaiseradler aus dem Heereswappen dann in sein Familienwappen übernommen.“
Charley versuchte, nicht allzu beeindruckt zu sein. Hatte Raphael als kleiner Junge auf dem Schoß seiner Mutter gesessen und diesen alten Familiengeschichten gelauscht?
Wieder fuhren sie durch ein Tor in der Stadtmauer. Der silberne Sportwagen heulte auf, als Raphael beschleunigte. Charley fuhr zusammen und klammerte sich unwillkürlich mit beiden Händen am Sitz fest.
Raphael warf ihr einen finsteren Blick zu und sagte: „Ich weiß ja nicht, mit was für Männern Sie normalerweise unterwegs sind, aber ich kann Ihnen glaubhaft versichern, dass ich weder zur Selbstüberschätzung neige noch bereit bin, törichte Risiken eingehen.“
„Ich bin an so starke Motoren nicht gewöhnt.“ Oder an so starke Männer? Charley zwang sich, den Blick von Raphaels Profil zu lösen, was aber nicht verhinderte, dass sie sich gleich darauf dabei ertappte, wie sie auf seine kräftige Hand auf dem Schaltknüppel schaute. Was prompt wieder ihre törichte Fantasie in Gang brachte. Sie sah seine Hand auf ihrem Körper. Dabei wurde ihr schlagartig heiß. Was hatte das bloß alles zu bedeuten? So etwas war ihr noch nie passiert, und sie wollte auch nicht, dass es jetzt passierte. Nicht auszudenken, wenn Raphael etwas von ihren geheimen Gedanken wüsste. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie er sich über sie lustig machen würde. Das hässliche Entlein verknallt sich hoffnungslos in den stolzen Schwan! Er würde sich totlachen über sie.
Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie überrascht den Kopf hob, als der Wagen plötzlich stoppte.
Charley stieg langsam aus und schaute bewundernd auf den verfallenen Säulengang, der den Eingang zu dem Garten markierte. Die meisten Säulen waren in einem bedauernswerten Zustand und andere fehlten gleich ganz. Und alles war zugewuchert mit wildem Wein, der in der warmen Frühlingssonne ausschlug.
„Kommen Sie“, sagte Raphael, während er den Schlüssel für das Vorhängeschloss aus der Tasche zog, mit dem das schwere Holztor gesichert war. „Und lassen Sie sich verzaubern.“
5. KAPITEL
Obwohl Charley den Garten heute nicht zum ersten Mal besichtigte, sah sie ihn in Raphaels Gesellschaft doch mit anderen Augen, wie sie sich knapp zwei Stunden später eingestehen musste. Sie stand fast bis zu den Knien im Unterholz an einer Stelle, wo laut Originalplan früher einmal ein Parterregarten gewesen sein musste, mit kunstvoll gestutzten Hecken und Büschen und geometrisch angelegten Wegen. Am Wegesrand gab es bogenförmige Nischen, die mit musizierenden Engelsstatuen geschmückt waren, mit Steinbänken zum Ausruhen.
Inmitten dieser vor langer Zeit untergegangenen Welt verspürte Charley beim Gedanken an so viel vergangene Pracht Wehmut. Und plötzlich wünschte sie sich nichts mehr, als nach Kräften mithelfen zu dürfen, diese alte Schönheit wieder aufleben zu lassen, um sie so vor dem Vergessen zu bewahren.
„Hier war früher ein großer Springbrunnen, der durch ein kompliziertes Kanalsystem mit dem künstlichen See verbunden war. Wenn mich nicht alles täuscht, stammt die glorreiche Idee, den See zuschütten zu lassen, von Ihnen.“
Raphaels bissige Bemerkung brachte sie unsanft in die Wirklichkeit zurück.
„Dieser sogenannte See ist doch nicht mehr als eine wilde Mülldeponie, außerdem ist das Bett undicht. Ihn wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen, einschließlich der gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen, hieße, die Kosten um mehr als das Doppelte in die Höhe treiben“, verteidigte sie sich.
„Ich möchte aber, dass der ganze Garten wieder so wird, wie er früher einmal gewesen ist, und das schließt den See mit ein“, entgegnete er entschieden.
Raphael hörte Charley seufzen und sah, wie ihr Blick in Richtung des Sees schweifte.
„Gibt es irgendetwas dagegen zu sagen?“, fragte er.
Charley wandte den Kopf
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