Zur Leidenschaft verfuehrt
Charley sofort, dass das ein Kleid für eine Frau war, die sich ihrer Attraktivität und Weiblichkeit bewusst war, eine Frau, für die es normal war, dass ihre Erscheinung Bewunderung hervorrief. Charley brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie lächerlich sie in so einem Kleid aussehen würde. Sie würde sich zum Gespött machen, und die perfekte Eleganz des Kleides würde ihre körperlichen Mängel nur noch unterstreichen. Das schimmernde Seidenkleid warnte sie eindringlich vor einer absehbaren Demütigung. Und dann hörte sie plötzlich in ihrem Kopf wieder die Stimme ihrer Mutter. Charley erinnerte sich schmerzhaft deutlich daran, wie ihre Mutter mit ihr und ihren Schwestern in der Kinderabteilung von Kendals in Deansgate – damals noch dem nobelsten Kaufhaus von Manchester – gewesen war, um festliche Kleider für Weihnachten zu kaufen. Charley war damals sieben gewesen.
Jetzt sah sie es wieder genau vor sich, wie sie begehrlich die Hand nach einem meergrünen Taftkleid mit schwarzem Samtmieder und einer breiten Schärpe ausgestreckt und ihre Mutter energisch den Kopf geschüttelt und laut ausgerufen hatte: „Ach nein, Charley, wirklich! Das ist nichts für dich.“
Sie konnte fast heute noch spüren, wie ihr damals die Schamesröte ins Gesicht geschossen war, während sich die Leute nach ihr umgedreht und sie mit ihren viel hübscheren Schwestern verglichen hatten.
Abrupt stand sie auf.
„Das geht nicht, so etwas kann ich nicht tragen“, sagte sie entschieden zu Raphael. Sie war so aufgewühlt, dass sie nicht mitbekam, wie die Besitzerin ihren beiden Assistentinnen einen Wink gab und alle drei Frauen diskret den Raum verließen.
„Warum nicht?“ Raphael war nicht in Stimmung für weibliche Theatralik. Er war heute Morgen viel zu früh aufgewacht und hatte nicht wieder einschlafen können, weil er sich dauernd fragen musste, ob die Entscheidung, mit Charley in seinem Apartment in Florenz zu übernachten, wirklich so klug war. Oder wie er überhaupt dazu kam, einen solchen Entschluss zu fassen. Die Antwort, die sich ihm aufgedrängt hatte, war alles andere als erfreulich gewesen.
Aber dann hatte er kurzerhand beschlossen, aus der Sache das Beste zu machen und wenigstens dafür zu sorgen, dass Charlotte auf ihren Job in jeder Hinsicht angemessen vorbereitet war. Und jetzt stellte sie sich so an. Das konnte er wirklich nicht brauchen.
„Warum nicht? Müssen Sie das fragen?“, konterte Charlotte scharf. „Weil sie nicht zu mir passen, darum. Kein Mensch kann von mir verlangen, dass ich mich zum Gespött mache.“
Als Raphael die Hysterie in ihrer Stimme mitschwingen hörte, legte er seine Zeitung beiseite und stand auf. Seine Verärgerung löste sich schlagartig in Luft auf.
Er sah, dass Charley den Tränen nah war und zitterte. In ihren Augen stand eine ungute Mischung aus Selbsthass und Traurigkeit. Raphael war alarmiert. Ihre sichtliche Not appellierte an seinen Beschützerinstinkt. Er war dazu erzogen, sich Frauen gegenüber ritterlich zu verhalten, außerdem … Gefährlicherweise aber weckte ihre Bedrängnis noch andere Instinkte in ihm, Instinkte wie zum Beispiel … Begehren. Zum Glück wusste niemand, außer ihm selbst, wie nah daran er war, sie in den Arm zu nehmen und fest an sich zu ziehen. Und es durfte auch niemand wissen. Einmal hatte er sie schon im Arm gehalten, und das war einmal zu viel. Sein Herz begann schneller zu schlagen und bestätigte ihm, was er bereits wusste.
„Wie um alles in der Welt kommen Sie denn auf so eine Idee?“, fragte er. Die Schroffheit, die in seiner Stimme mitschwang, spiegelte seine eigene innere Zerrissenheit wider. Charley machte sie noch unglücklicher.
Es blieb lange still. Charley hatte sich von ihm abgewandt. Als sie endlich etwas sagte, klang es, als ob sie sich jedes einzelne Wort abringen müsste.
„Weil es so ist.“
Es war die trotzige Antwort eines Kindes – Trotz zum Schutz gegen etwas, das zu wehtat, um es aussprechen zu können, wie Raphael erkannte. Ein solches Verhalten war ihm nicht fremd, weil er nur allzu gut wusste, wie es sich anfühlte, wenn man den wahren Grund eines inneren Schmerzes nicht offenbaren konnte.
Warum hatte sie das jetzt gesagt? Warum hatte sie sich ihm in ihrer ganzen Verletzlichkeit gezeigt? Warum hatte sie ihm die Waffe in die Hand gegeben, mit der er sie zerstören konnte? Doch Charley wusste, dass es zu spät war für diese Fragen.
„Ich verstehe.“ Raphael überlegte, was er tun
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