Zurück ans Meer
Schlafende, ausgestreckt auf
Couchen oder Luftmatratzen. Ich gehe nach oben, um mich von Leslie zu verabschieden, hole meinen Mantel und die Tasche und
schlüpfe leise aus der Hintertür.
Der gestrige Sturm hat die Bäume entblättert und klare Sicht auf den Himmel geschaffen – eine karge und dabei wunderbar reine
Szenerie. Die Japaner legen großen Wert auf zufällige Begegnungen, und seit dem gestrigen Abend verstehe ich, warum. Dieses
kurze Zwischenspiel mit Frauen, mit denen ich nicht mal eng befreundet bin, hat meine müden Lebensgeister gründlich geweckt.
Die alten Griechen glaubten, dass Freunde nur durch beständigen Dialog und ehrlicheAnteilnahme gemeinsam eine höhere Ebene der Wahrheit erreichen können. Nach dem Fest am gestrigen Abend bin ich noch überzeugter
davon, dass alle Frauen eine Art Schwesternschaft brauchen.
Ich habe auch etwas über mich gelernt, während ich diesen Frauen zuhörte. Wenn ich ganz ehrlich mit mir bin, muss ich zugeben,
dass die Forderungen, die vermeintlich von außen auf mich zukommen, tatsächlich von dem nach wie vor unvollendeten Teil meiner
selbst stammen – Zug und Schub entstehen aus meiner eigenen Mehrdeutigkeit. Susan und Ro haben recht. Meistens bin ich mir
selbst der schlimmste Feind, hartnäckig verfolgt von meinem Perfektionismus, meinen Schuldgefühlen und dem Bedürfnis, allen
gerecht zu werden. Vielleicht muss ich nicht dauernd den Berggipfel erklimmen. Die halbe Höhe reicht auch. Eine meiner Freundinnen
hat vor Kurzem den Kilimandscharo bestiegen, und ihr Führer riet ihr, nicht zu versessen darauf zu sein, den Gipfel zu erreichen.
»Der Berg wird Ihnen sagen, wann Sie weit genug gekommen sind«, sagte er. Tatsächlich begann ihre Nase nach einem Dreiviertel
des Weges zu bluten, und das Atmen fiel ihr schwer. Offensichtlich war sie so weit gekommen, wie es ihr möglich war. Habe
auch ich meine Grenze erreicht, zumindest vorläufig?
Da ich meine falschen Reisen erwähnt und eingestanden habe, glaube ich es. Mehr denn je stelle ich die Triftigkeit all dieser
Gewissenserforschung infrage. Zuerst waren meine Bemühungen aufrichtig, und ich habe die diversen Reisen in bester Absicht
begonnen. Mir mangelte es nur an Grenzen, und dann glitt mir alles aus der Hand. Was ja kein Verbrechen ist. Trotzdem, all
die Warnsignale, die ich in letzter Zeit erhalten habe, deuten darauf hin, dass ich die Richtung ändern oder weitere Konsequenzen
tragen muss. Neue Vorsätze zu fassen (und mich daran zu halten) wäre ein Anfang – mir ein Büro außer Haus zu suchen, damit
meine Zeit von jenen, die michgern unterbrechen, eher respektiert wird, längere Strandspaziergänge zu machen, vielleicht sogar für das Radrennen von einer
Spitze des Capes zum anderen zu trainieren. »An sich selbst zu glauben ist nicht alles«, würde Joan Erikson sagen, »aber man
kann nur etwas ändern, indem man etwas tut.«
Mit neuer Entschlossenheit schlage ich aufs Lenkrad und feuere mich an, fahre ein wenig zu schnell über den Highway, aber
wen kümmert das auf dieser leeren Straße und so früh am Morgen? Ich öffne das Fenster und lasse mir von der kühlen Herbstluft
das Haar in alle Richtungen wehen. Einen Moment lang fühle ich mich so beschwingt wie Thelma und Louise, nur ohne deren Todeswunsch.
Völlig vertieft in meine eigene verrückte Welt, sause ich durch eine Unterführung und bemerke dann den Wagen des Polizisten,
der hinter einem Busch lauert. Ich nehme den Fuß vom Gas und bete darum, dass er nur Kaffeepause macht. Aber Sekunden später
höre ich die unverkennbare Sirene, sehe das Blinklicht im Rückspiegel und biege widerstrebend auf die Standspur ab. Er kommt
zu meinem kleinen Camry gestiefelt und verlangt ohne Vorrede meinen Führerschein und die Fahrzeugpapiere.
Ich reiche ihm beides. Sein Blick schießt von meinem Foto zu meinem Gesicht und zurück. »Bin gleich wieder da«, sagt er barsch
und marschiert davon. Ich lehne mich zurück und beschimpfe mich dafür, so gerast zu sein. »Kleiner Mann/ (in Eile/voll wichtiger
Sorgen)/ halt an, vergiss, entspanne dich«, schrieb E. E. Cummings, offenbar nur für mich.
Okay. Okay! Ich bin erwischt worden, schon wieder. Ich überlege, wie viel es mich kosten wird. Ich schaue auf die Uhr – 7 Uhr 30. Ich sitze hier bereits seit zehn Minuten. Warum dauert das so lange? Ich blicke in den Rückspiegel und sehe, dass der Mann
telefoniert. Na toll! Ich wette, ich
Weitere Kostenlose Bücher