Zurück ans Meer
achtundzwanzig
haben wir den Wunsch, uns fortzupflanzen, und danach wird unsere Zeit aufgezehrt, indem wir andere bemuttern und uns selbst
hintanstellen. Mit fünfunddreißig beginnen wir jedoch aufzuwachen und über derart begrenzte Erfahrungen hinauszuschauen, zwischen
zweiundvierzig und neunundvierzig setzen die Wechseljahre ein. Von neunundvierzig bis sechsundfünfzig wünschen wir uns, ohne
Regeln zu leben und fortzugehen, bis wir endlich die Chance haben, unseren Daseinsgrund zu finden. Erst danach werden wir
wirklich, wer wir sind – werden wir zur »Wächterin«, wie ich sie nenne.
Während ich mir jetzt eine Wächterin vorstelle, sehe ich eine ehrwürdige Frau vor mir, vielleicht mit ergrautem Haar, deren
Wissen aus der Zeit stammt, die sie in den Schützengräben des Lebens verbracht hat. Ihr Schritt ist bedächtig, und ihr Auftreten
spricht Bände darüber, was es bedeutet, sowohl präsent als auch auf vitale Weise engagiert zu sein. Am wichtigsten ist, dass
sie ihre Illusionen längst abgelegt hat und das akzeptiert, was sie für sich als wahr erkennt.
Ich lasse die Schultern sinken und entspanne mich. Dann greife ich zum Handy, um meinem Mann mitzuteilen, wann ich zu Hause
ankommen werde. Es ist so leicht, mich denen zuzuwenden, die ich liebe, nachdem ich geistig und spirituell so erfrischt wurde!
Eigentlich bedauernswert, wie wenig eine Frau braucht, um sich erneuert zu fühlen. Leider geht er nicht ans Telefon, also
wähle ich die Nummer meiner Mutter. Wäre doch nett, unsere übliche Plauderei so früh am Morgen zu erledigen, doch auch sie
nimmt nicht ab. Mit gleichmütigemSchulterzucken gebe ich mich wieder dem Fahren hin und freue mich über die Möglichkeit, ein paar ruhige Stunden mit den ländlichen
Ausblicken zu genießen, die Rhode Island zu bieten hat – Wiesen mit frisch aufgeschichteten Heuballen, grasende Kühe und die
letzte Herbstfärbung der Wälder rechts und links der Straße. Frieden finde ich stets nur in der Natur.
Umweg
Anfang Oktober
Ein guter Reisender hat keine festen Pläne
und ist nicht darauf erpicht, anzukommen.
Lao-tse
»Hallo, Schatz, ich bin wieder zu Hause«, rufe ich, stelle meine Buchtasche und mein Gepäck im Flur ab und spähe ins Wohnzimmer,
wo mein Mann immer sitzt. Aber sein Sessel ist leer. Ich versuche es erneut, rufe diesmal durch das kalte Treppenhaus hinauf.
»Heh, Robin, ich bin’s, deine Frau!« Noch immer keine Antwort. Zwar enttäuscht mich die fehlende Begrüßung, aber es überrascht
mich nicht. Von sich aus würde Robin aus Kommen und Gehen nie etwas Besonderes machen. Ich bin diejenige, die gewöhnliche
Tage in Feste verwandelt. Dieser Unterschied regte mich früher auf – ich fühlte mich übersehen oder nicht genügend gewürdigt.
Wenigstens über diese Bedürfnisse bin ich hinaus. Ich gehe in die Küche, um mir eine Tasse Tee zu machen, und entdecke eine
an den Küchenschrank gepinnte Nachricht.
Deine Mutter musste ins Krankenhaus. Ich bin nach Hyannis
gefahren. Komm, sobald du kannst.
O mein Gott! Was ist denn jetzt los? Mein Herz beginnt zu hämmern, mein Magen verkrampft sich. Vor zweiunddreißig Stunden
war sie noch ganz munter. Ich greife nach den Autoschlüsseln, laufe hinaus und versuche, die mögliche Ernsthaftigkeit dieses
Notfalls kleinzureden. Schließlich hat meine Mutter uns mehr als eine Gelegenheit geboten, ihr Hinscheiden zu üben.
Sie wurde wegen eines Tumors in der Nebenschilddrüse operiert, bekam einen Herzschrittmacher eingesetzt und wurde mehrfach
mit Blaulicht in die Notaufnahme transportiert,nachdem sie infolge von Unterzuckerung ohnmächtig geworden war. Sie hat sich jedes Mal erholt, manchmal so schnell, dass ich
mich doch fragen muss, ob da nicht eine gewisse Dramatik im Spiel ist, als böten ihr diese Gesundheitskrisen eine Aufregung,
die ihr in diesem Lebensstadium sonst versagt bleibt. Ich muss an die Reise nach Washington im letzten Jahr denken, zur Beerdigung
meiner Tante. Wir hatten die Flugtickets gekauft, hatten für meine Mutter gepackt, für den Tür-zu-Tür-Transport zum Flugplatz
und zu unserem Endziel gesorgt, und Robin und ich sollten sie begleiten. Sie schien ganz erpicht auf die Reise, wenn auch
nur, um ihren Bruder wiederzusehen. Aber auf dem Weg zum Flugplatz wurde sie unruhig und bat bald darum, die Autofenster zu
öffnen. »Mir geht es nicht gut, Joan«, verkündete sie, als wir den Flugplatz erreichten. Unsere
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