Zurück ans Meer
ausgeprägt mein Instinkt für Betreuung und Fürsorge ist.
Wir verglichen unsere Stärken, als sie von sich aus sagte, meine Stärke sei das Mitgefühl. Natürlich fühlte ich mich äußerst
geschmeichelt – wer möchte nicht als mitfühlend betrachtet werden? Joan fuhr fort, mir zu erklären, dass ich als Kind wohl
oft geschauspielert hatte und deshalb darauf bedacht war herauszufinden, was sich im Leben anderer abspielte, damit ich mich
besser mit ihnen identifizieren konnte. »Und daher«, teilte sie mir mit, »bist du als Erwachsene recht gut darauf eingestellt,
dich tief in andere hineinzuversetzen. Es ist bemerkenswert, wie gut du die Misere älterer Menschen verstehst. Aber ich frage
mich, meine Liebe, ob du nicht manchmal so viel für andere Menschen empfindest, dass dir das Gefühl für dich selbst abhanden
kommt.«
Während die Jahre vergingen, wurde mir klar, welche Nemesis ich durch dieses starke Mitgefühl geschaffen habe, wodurch ich
mich viel stärker als notwendig mit dem Leben anderer verwoben habe: Ich habe in ihnen ein Bedürfnis nach mir entstehen lassen,
um das tun zu können, was ich am besten kann. Meine Mutter hat mich abhängig von sich gemacht, und jetzt habe ich sie abhängig
von mir gemacht. Aber was soll ich dagegen unternehmen?
Mein Bruder hat schon vor Jahren klargestellt, dass er nicht die Absicht habe, für unsere Eltern zu sorgen. Bisher ist es
ihm leichtgefallen, bei dieser Aussage zu bleiben. Schließlich ist er ein Mann und wohnt gute zweitausend Meilen entfernt
in Utah. Er bildet sich gerne ein, seinen Beitrag zu leisten, weil er Mom jede Woche anruft, sie im Sommer besucht und ihr
hin und wieder ein Päckchen schickt, aber die tägliche Betreuung bleibt an mir hängen. Nach jedem Notfall greift Robin seine
Kampagne wieder auf, sie vom betreuten Wohnen zu überzeugen. Sie lehnt das natürlich ab, und ich muss zugeben, dass ich da
keinen Druck gemacht habe. Die Vorstellungvon meiner Mutter in so einer Einrichtung erscheint mir bisweilen, als hätte ich klein beigegeben und sie aufs Altenteil geschoben.
Ich kann mich noch an das Magengrimmen erinnern, das mich jedes Mal überkam, wenn ich die Jungs in ein Ferienlager schickte
und wusste, sie würden Heimweh haben. Doch der Keil, der sich zwischen Robin und mich schiebt, muss angesprochen werden. Als
wir zuletzt über meine selbst auferlegte Rolle als Betreuerin gestritten haben, führte Robin ein interessantes Argument an.
»Tabletten und Schrittmacher haben den natürlichen Lauf der Dinge verändert«, sagte er. »Ich würde gerne wissen, was wir dadurch
gewinnen.«
Er hat recht. Dieses Spiel hat sich allmählich überholt, und wenn ich mich nicht mitten in einer Krise befinde, denke ich
oft darüber nach, dass unsere Alten, einschließlich meiner Mutter, ihren Turnus gehabt haben – ein Leben mit Kindern, Enkeln
und Urenkeln. Steht mir nicht dasselbe zu? Ich schäme mich zuzugeben, dass ich sogar darüber phantasiert habe, wie es wäre,
Teil der Eskimo-Kultur zu sein, wo man alten Menschen, wenn es an der Zeit ist und sie ihre natürliche Lebenszeit überschritten
haben, ein Iglu baut und sie allein lässt.
Ich erkenne jetzt, dass ich mich um meinen Turnus betrüge. Wenn ich nicht bald etwas unternehme, verpasse ich den richtigen
Zeitpunkt. Die Uhr tickt. Wüssten wir den genauen Tag unseres Todes, würden wir dann anders leben? Die Augenblicke zu erkennen,
sie wertzuschätzen, sie weise zu nutzen, ist genau das, was ich mir in dem allein verbrachten Jahr vorgenommen hatte. Wie
finde ich zu diesen Vorsätzen zurück? Die Antwort liegt direkt vor mir – ergreife den Augenblick.
Auf der Heimfahrt halte ich bei meinem italienischen Lieblingshändler an und kaufe die Zutaten für eine Gemüse-Pasta ein –
Paprika, Tomaten, Pilze, Knoblauch, Zucchini, frisch geriebenen Parmesan, einen großen Laib Brot und eine überteuerte Flasche
Chianti. Vom Auto aus rufe ich Robin an.
»Hallo, ich bin’s. Wie wär’s heute Abend mit italienischem Essen?«
»Ich wollte dich zum Essen einladen, Liebling.«
»Also, ich würde lieber die Füße hochlegen und am Feuer sitzen. Ich war gerade bei Feretti und habe eingekauft.«
»Wenn dir das lieber ist, ist es mir auch lieber«, sagt er mit ungewöhnlich warmer Stimme.
Als ich zur Tür hereinkomme, hat er bereits das Feuer entfacht und sogar ein paar Kerzen angezündet. »Ich glaube, ich leide
an einem Alte-Menschen-Burnout«,
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