Zurück ans Meer
um sie
vorzubereiten«, fährt er fort. »Sie können jetzt zu ihr, wenn Sie wollen.«
Wir folgen ihm zu dem Raum, in dem meine Mutter zaghaft und etwas verängstigt auf einem schmalen Untersuchungstisch liegt,
umgeben von Assistenzärzten und Krankenschwestern, die ihren Blutdruck messen und ihr diverse Infusionen legen. Ihre Gesichtshaut
wirkt wie Pergament. Ich greife nach ihrer Hand und beuge mich hinunter, um ihr einen Kuss zu geben, und die Kraft ihres Griffes
sagt mir, wie dankbar sie ist, dass wir hier sind. »Das wird schon wieder«,sage ich und hoffe, damit alle Ängste zu beschwichtigen – ihre und meine.
»Ich weiß, Liebes«, erwidert sie, »und was für ein netter Arzt, findest du nicht auch? Sind dir seine Schuhe aufgefallen?
Er trägt Clogs. Stell dir das vor!« Ihre albernen Bemerkungen schaffen vorübergehend Erleichterung, und Robin und ich lachen.
Als das geschäftige Pflegepersonal uns bittet, in den Flur hinauszugehen, ergreift Robin die Gelegenheit, sich zu verabschieden.
»Granny, du bist jetzt in guten Händen. Ich glaube, es ist das Beste, wenn Joan und ich heimfahren«, sagt er zu meiner Mutter,
ohne sich vorher auch nur mit mir abzusprechen. »Wir kommen morgen früh wieder.« Ich weiß, dass er eine Abneigung gegen Krankenhäuser
hat und sein Verhalten oft ungewollt ruppig ist, aber ich habe seit Langem das Gefühl, dass ältere Menschen, vor allem wenn
es die eigenen Eltern sind, einen Fürsprecher verdienen und brauchen, wenn sie sich in fremder Umgebung befinden. Meine Mutter
so zu verlassen, bevor ihr ein Zimmer zugewiesen wurde, kommt mir gefühllos, sogar grausam vor. Gleichwohl winkt er ihr zu
und fasst mich dann am Arm, um mich hinauszuführen. Sobald wir den Parkplatz erreicht haben, spricht er als Erster. »Ist dir
aufgefallen, dass sie jedes Mal, wenn du fort bist, entweder bettlägerig wird oder ins Krankenhaus gebracht werden muss? Kommt
mir psychosomatisch bedingt vor, wenn du mich fragst.«
Er ist kein schlechter Mensch, und ich weiß, dass er müde ist, aber kann er nicht empfindsamer mit meinem Konflikt umgehen?
Ich wollte sie vor dem Nachhausefahren wenigstens zu ihrem Zimmer begleiten. »Damit willst du doch wohl nicht andeuten, dass
diese Krankheit nicht echt ist, oder? Eine Neunzigjährige wird nicht einfach so aufgeschnitten.«
Zum Glück fahren wir mit getrennten Autos, daher wird dieser kleine Streit nicht fortgeführt. Aber er schürt die Flammendes Kampfes, den ich mit mir selbst ausfechte. Jederzeit für meine Mutter erreichbar zu sein, wie ich es in den letzten zehn
Jahren war, ist überaus ermüdend geworden. Es begann nach dem Tod meines Vaters, als ich irrtümlich dachte, ich könnte die
Leere ausfüllen, die durch sein Hinscheiden entstanden war, und den Schmerz meiner Mutter lindern. Daher übernahm ich, als
unsere Söhne ausgezogen waren, die Betreuung eines weiteren Kindes – meiner Mutter. Nachdem bei ihr allmählich verschiedene
Körperfunktionen versagen, es handelt sich um Inkontinenz, Schwerhörigkeit, nachlassendes Sehvermögen und, am schlimmsten,
drohende Senilität, hat diese Rolle neue Ausmaße angenommen.
Meine einst so schicke Mutter Tag für Tag anzuschauen, deprimiert mich. Ihre Haut ist grau geworden, ihre Augen trübe, ihr
Haar verfilzt, ihr Gang unsicher. Die Frau, die immer farblich aufeinander abgestimmte Kleidung mit dazu passenden Schuhen
und Schmuck trug, ist fast vollständig verschwunden, und an ihrer Stelle sehe ich eine alte Frau vor mir, die tagtäglich denselben
Jogginganzug trägt und darauf wartet, von mir unterhalten zu werden. Ehrlich gesagt fällt es mir schwerer, mich um meine alternde
Mutter zu kümmern als um meine ungestümen Enkelkinder, die zwar anstrengend sind, aber noch das ganze Leben vor sich haben
und denen man gern zuschaut.
Trotz unserer Schwierigkeiten haben wir eine vertraute Beziehung. Sie selbst hat sich um ihre beiden Eltern sowie die Mutter
und die Tante meines Vaters gekümmert. Ich muss wohl angenommen haben, keine andere Wahl zu haben, als dasselbe zu tun. Doch
die meisten Frauen aus der Generation meiner Mutter waren nicht berufstätig, wie es bei mir und so vielen meiner Generation
der Fall ist. Sehen Sie, ich bin genau da wieder gelandet, wo ich vor drei Tagen angefangen habe – überwältigt von meinem
vollen Programm, verstrickt in familiäre Verpflichtungen.
Erst als ich Joan Erikson kennenlernte, begann ich zu begreifen, wie
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