Zurück ans Meer
habe vergessen, meinen Führerschein zu verlängern oder irgend so etwas. Dafür stecken
sie einen ins Gefängnis – das ist meinem Sohn vor mehreren Jahren auf einer seiner nächtlichen Fahrten nachCape Cod passiert. Ich atme mehrmals tief durch und summe den Song von Simon & Garfunkel über das Gaswegnehmen,
bis der Polizist schließlich an mein Fenster klopft.
»Diesmal sind Sie noch davongekommen«, sagt er, während ich insgeheim seufze. »Ich gebe Ihnen nur eine Verwarnung, weil Sie
außerhalb Ihres Bundesstaats sind. Aber wir haben Sie in unserer EDV erfasst. Heute wird wunderschönes Wetter, Lady. Warum
fahren Sie nicht ein bisschen langsamer und genießen die guten Seiten des Lebens?« Und mit diesem ungebetenen Ratschlag stiefelt
er davon. Ich atme erleichtert auf, biege von der Standspur zurück auf den Highway, beschleunige, aber nur auf fünfundsechzig
Meilen, die ich nicht zu überschreiten gedenke, bis ich sicher zu Hause gelandet bin.
Ich überlege, was die Frauen dort in Connecticut jetzt wohl machen oder ob sie überhaupt schon wach sind. Sie hatten verschiedene
Pläne für den Tag, einschließlich einer Schreibübung, die ich angeregt hatte: nämlich ihren Nachruf zu verfassen, um das Ende
der ersten Hälfte ihres Lebens zu markieren. Sie sollten aufführen, zu wem sie in Beziehung standen, was sie erreicht und
welche Leidenschaften und Hobbys sie hatten. Es geht darum, Rechenschaft über die bisher vergangene Zeit abzulegen, sie somit
zu markieren, ihre Bedeutung zu erkennen und sich von dem zu verabschieden, was sie waren, um das auf die Welt zu bringen,
was sie noch werden könnten. Ich sinne darüber nach, was ich wohl über mich zu sagen hätte.
Joan Anderson, 1943 – 2006: Als Tochter eines Angestellten einer Ölfirma verbrachte sie ihre Kindheit damit, im Nordosten der Vereinigten Staaten
von Ort zu Ort zu ziehen und dabei die Kunst der Anpassung zu lernen – sich zu einer Person zu entwickeln, die sich in jeder
neuen Situation einzurichten vermochte. Sie wurde auf ein Frauencollege geschickt, wo sie sich weigerte,Bridge zu spielen, zu rauchen und einen Ehemann zu finden. Nach zwei Jahren wechselte sie auf die Schauspielschule von Yale,
wo sie sich oft in den Figuren verlor, die sie darstellte, da sie es leichter fand, eine andere zu sein als sie selbst. Sie
lernte einen Schauspielkollegen kennen, und sie spürten, dass sie ohne einander nicht leben konnten. Eine Theaterkarriere
würde jedoch leider kein Essen auf den Tisch bringen, daher brannten die beiden Liebenden, Kinder der Kennedy-Ära, nach Ostafrika
durch, um drei Jahre lang im Busch zu arbeiten. Nach der Rückkehr in die Staaten konzentrierte sie sich auf die Karriere ihres
Mannes und die Gründung einer Familie. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre verbrachte sie damit, den häuslichen Herd nicht erkalten
zu lassen und Schulgelder aufzutreiben. Aber all diese Tätigkeiten für andere forderten schließlich ihren Tribut, und sie
lief von zu Hause fort, als sich der für die restliche Familie geeignete Moment ergab. Ihre größte Erleuchtung während ihres
Jahres am Meer wurde zu einer eindringlichen Botschaft an die Frauen weltweit – dass wir alle so unvollendet sind, wie die
Uferlinie am Strand.
Bei dem Gedanken an meine Sterblichkeit muss ich laut lachen, dann überkommt mich eine plötzliche Dankbarkeit, dass, so Gott
will, noch genügend Zeit bleibt, um zusätzliche Reife zu erlangen. Jemand fragte Robert Frost gegen Ende seines Lebens, ob
er Hoffnung für die Zukunft habe; seine Antwort berührte mich so, dass ich sie mir gemerkt habe: »Ja«, erwiderte er, »und
sogar für die Vergangenheit … dass sie sich als etwas erweisen wird, das insgesamt in Ordnung war – etwas, das ich akzeptieren kann – Fehler, die von
dem Selbst gemacht wurden, das ich zu sein hatte oder nicht sein konnte.«
Keine Frage, das Leben ist eine ständige Metamorphose, vor allem für uns Frauen, da unser Leben teilweise von den sich verändernden
Kräften unseres Körpers beherrscht wird.Clarissa Pinkola Estés vertritt die Meinung, dass alle Frauen im Rhythmus von sieben Jahren Stadien durchmachen, die uns emotional,
spirituell und körperlich verändern. In den ersten sieben Jahren sind wir von Staunen erfüllt. Von sieben bis vierzehn beginnt
die hormonelle Aktivität, von vierzehn bis einundzwanzig entfaltet sich die Sexualität, von einundzwanzig bis
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