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Zurück ans Meer

Titel: Zurück ans Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Versuche, ihr zu helfen, schlugen
     fehl, und wir waren gezwungen, nach Hause zurückzukehren. Am nächsten Tag konnte sie sich nicht mehr daran erinnern. So ist
     das Leben mit alternden Eltern – in dem einen Moment sind sie voll da und im nächsten Moment nicht.
    Trotzdem ist jeder Augenblick eine Warnung oder eine Vorahnung – eine scharfe Mahnung, dass einer davon der letzte sein wird.
     Also trete ich ein wenig fester aufs Gas und rase weiter. »Stirb nicht, Mommy, bitte stirb nicht.« All meine Wünsche, sie
     würde eines Tages einfach davonschlüpfen, haben sich jetzt in Panik verwandelt. Mir fällt eine Freundin ein, die ihre Mutter
     verloren hat und mir ans Herz legte, meine jedes Mal zu küssen, wenn ich sie sehe. »Vergiss auch nicht, an ihr zu riechen«,
     hatte sie hinzugefügt. Ich bedaure, das vor dieser letzten Reise nicht getan zu haben. Ich hatte es so eilig, von der Kritik
     aller wegzukommen, dass ich regelrecht geflohen bin.
    Mit diesen wirren Gedanken biege ich auf den Parkplatz des Krankenhauses ein, stelle den Wagen in die erste freie Lücke und
     eile hinein, um meinen Mann zu suchen. »Wiegeht es ihr?«, frage ich, ohne ihn auch nur zu umarmen oder Hallo zu sagen.
    »Der Arzt ist jetzt bei ihr«, antwortet er rätselhaft.
    »Was ist passiert?«
    »Keine Ahnung. Ein Nachbar hat angerufen und gesagt, er habe sie auf dem Boden gefunden, wo sie sich vor Schmerzen krümmte.
     Ihr Bauch ist aufgebläht wie ein Basketball.«
    »O Gott!«, keuche ich und habe Gewissensbisse, weil ich nicht entschiedener darauf bestanden habe, dass sie die Pflegerin
     behält, die ich für sie eingestellt hatte. »Was könnte denn die Ursache sein?«
    »Wer weiß? Sie hat alle Untersuchungen abgelehnt, die dieser Gastrologe aus Boston angeordnet hatte – sie wollte dafür kein
     Geld ausgeben, erinnerst du dich?«, sagt er, wobei sich in seiner Stimme Sarkasmus mit Erbitterung mischt. »Hör zu, es hat
     keinen Zweck, zu spekulieren«, fährt er fort und führt mich in eine ruhige Ecke, weg von den anderen Leuten, die alle mehr
     oder weniger in Sorge sind. »Wir werden es schon bald erfahren. Entspann dich. Es ist nicht das erste Mal, dass wir hier sind,
     und bestimmt auch nicht das letzte Mal.«
    Seine Erregung irritiert mich, obwohl ich sie in gewisser Weise verstehen kann. Ein Großteil entspringt der Freiheitsbeschränkung,
     die wir empfinden, weil wir uns um meine Mutter kümmern müssen. Wir hatten immer geplant, nach Robins Pensionierung größere
     Reisen zu unternehmen – zu kommen und zu gehen, wie es uns gefällt. Aber durch den zunehmenden gesundheitlichen Verfall meiner
     Mutter sind unsere Träume auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Im Allgemeinen ist Robin kein Spielverderber. Er gibt den
     galanten Schwiegersohn, wenn meine Mutter zu uns zum Essen kommt, was immer häufiger geschieht, kümmert sich um ihre Finanzen
     und die Instandhaltung ihres Hauses, bezahlt das zusätzliche Hotelzimmer, wenn sie mit uns reist, und geht oft mit ihr ins
     Kino, wenn ich unterwegs bin. Aber in letzter Zeitist er widerspenstiger geworden, schließt tagsüber die Haustür ab, für den Fall, dass sie unangekündigt vorbeischauen sollte.
     Jeder hat seine Grenzen, nehme ich an.
    Also sitzen wir da und lassen die Zeit verstreichen, wir sind unfähig, etwas anderes zu tun als zu warten. Warten bedeutet
     loszulassen, die Kontrolle aufzugeben und, in diesem Fall, ein oder zwei Gebete zu sprechen, dass die Krise vorübergehen möge.
     Das Problem ist, dass ich nicht zur Ruhe kommen kann. Ich will unbedingt wissen, was hinter den Vorhängen und Türen geschieht,
     und ich fürchte mich vor der Diagnose. Aber um ehrlich zu sein, bin ich auch ein wenig frustriert. Kaum war ich bereit, den
     Rat meiner Freundinnen und der Familie anzunehmen und einen Gang runterzuschalten, gerate ich in eine weitere Umleitung. Zugegeben,
     meine Mutter könnte sterben! Da ist es nur richtig, dass alles zum Stillstand kommen sollte, aber ich will das Gefühl von
     Möglichkeiten und Hoffnung, das ich in Connecticut erlangt habe, auf keinen Fall verlieren.
    Mehrere Stunden und viele Tassen Kaffee später kommt der Arzt zu uns. Er ist ein gut aussehender, älterer Mann mit freundlichem
     Gesicht. »Ihre Mutter wird wieder gesund«, sagt er. »Wir haben ihren Dickdarm entwirrt, was sicherlich den Stuhlgang behinderte,
     aber sie muss operiert werden. Ohne chirurgischen Eingriff wird das Problem wieder auftreten. Wir brauchen zwei Tage,

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