Zurueck in die Nacht
von
mir. „Und du? Was ist mit dir los? Was hast du für ein Problem?“, fahre ich ihn
an.
Zuerst
sieht es so aus, als wolle er sich wieder zurückziehen, doch dann strafft er
sich plötzlich und sieht mich fest an. „Mein Problem? Ich habe nur eins. Es ist
immer dasselbe, schon seit deiner Geburt.“ Er seufzt. „Ich habe lange geglaubt,
dass ich damit klarkomme. Dass ich es irgendwie schaffe. Dass ich, solange ich
sie nur suche, ohne sie leben kann. Solange ich mir vormache, dass ich sie
eines Tages doch noch wiederfinde. Aber“, plötzlich klingt er müde, unendlich
müde, „ich kann nicht mehr. Ich habe einfach nicht mehr die Kraft, mir etwas
vorzumachen. Und dir auch nicht.“
Er
wirft mir einen Blick zu, der mich fast umhaut. So voller Müdigkeit – und
Schmerz – und Schuld. Der Blick von jemandem, der alle Hoffnung aufgegeben hat.
„Mir?“
Er
nickt, so mühsam, als würde sein Kopf von einem Mühlstein hinuntergezogen. „Das
ist das Schlimmste daran. Ich habe dir immer etwas vorgemacht. Du glaubst, ich
habe versucht, dir ein guter Vater zu sein. Etwas verrückt zwar, aber ansonsten
in Ordnung.“ Der Geist eines Lächelns erscheint auf seinem Gesicht, als er
meine ertappte Miene sieht, und verschwindet gleich wieder. „Ja, ich weiß, was
du über mich denkst. Ich bin ja nicht blöd. Verrückt vielleicht schon. Aber ich
bin auch nicht gut .“ Er schüttelt den Kopf, als ich protestieren will.
„Nein. Wirklich nicht. Ein guter Vater belügt seinen Sohn nicht. Ein guter
Vater erzählt ihm die Wahrheit. Auch wenn sie schwierig ist. Aber so einer bin
ich nicht.“
Auf
einmal weiß ich, worauf er hinaus will. Ein erleichtertes Lachen entfährt mir.
Raphael
sieht mich traurig an. „Du glaubst, ich mache Witze? Oder ich bin betrunken?“
Er schüttelt wieder den Kopf. „Glaube mir, ich bin stocknüchtern. Und es ist
mein voller Ernst. Ich habe dich dein ganzes Leben lang… belogen.“
Er
sieht mich an, als erwarte er jeden Moment, dass ich aufspringe, ihn anschreie,
weglaufe oder über ihn herfalle. Und ich erinnere mich plötzlich an meine
zugegeben sehr ähnliche Reaktion, als ich zum ersten Mal die Wahrheit erfahren
habe. Dass meine Mutter nicht, wie er mir immer erzählt hat, bei meiner Geburt
gestorben, sondern einfach spurlos verschwunden ist. Von einem Moment zum
anderen wie in Luft aufgelöst. Und dass sie nicht allein gegangen ist. Sondern
dass sie meinen Bruder – meinen Zwillingsbruder – mitgenommen hat. Als er mir
das zum ersten Mal erzählt hat – ein paar Monate in der Zukunft, von jetzt
gesehen – war ich wirklich total sauer auf ihn. Wochenlang habe ich nicht mit
ihm geredet.
Jetzt
hingegen bin ich nur erleichtert. Dass er es ist, der das Thema
anspricht. Und dass ich ihm nun endlich nichts mehr vormachen muss. Also sehe
ich ihn nur an und antworte: „Ich weiß.“
Das
haut ihn um. „Was?“
„Ja.“
Ich nicke. „Ich weiß, dass meine Mutter – Claire – nicht tot ist. Und ich weiß
von Arik. Ariel. Meinem Bruder.“
Er
sieht aus, als hätte ihn der Schlag getroffen, und plötzlich mache ich mir
Sorgen. War das vielleicht zu direkt?
Zum
Glück kommt er schnell wieder zu sich. „A…aber… wieso? Woher… woher weißt du das?“
Ich
versuche, meine Worte vorsichtig zu wählen. Ich darf nicht vergessen, dass er
nicht gerade in bester Verfassung ist. „Ich weiß sogar noch mehr.“
„Und
was?“ Sein Blick ist so verletzlich, als hätte ich ihn angeschossen und er
warte nur noch auf den Gnadenstoß.
Ich
fasse einen Entschluss und hoffe nur, dass es nicht wirklich der Gnadenstoß
ist. „Pass auf, ich zeig dir was.“ Ich stehe auf und schiebe den Stuhl zurück.
„Aber versprich mir, dass du dich nicht aufregst, okay?“ Ich sehe ihn prüfend
an. „Sieh einfach nur hin. Ich bin sofort wieder da.“ Und dann gehe ich ein
paar Sekunden vor.
Als
ich wieder stehen bleibe, sind vielleicht zehn Sekunden verstrichen. Raphael
sitzt da wie vom Donner gerührt und starrt mich an, als wäre ich ein Geist. Er
öffnet und schließt den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, als wollte er
etwas sagen, aber kein Ton kommt heraus.
Ich
gehe zu ihm und lege meine Hand auf seine Schulter. „Dad! Ich bin ja da! Komm
wieder zu dir!“
Nach
ein bisschen Schulterklopfen kann er endlich wieder sprechen, auch wenn es mehr
ein Stammeln ist. „Aber… aber… was… wie…“
„Genau
wie sie “, unterbreche ich ihn. Dann, nach einem weiteren Blick auf sein
Gesicht, das langsam
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