Zurück ins Licht (Das Kleeblatt)
Weile geziert wie olle Jungfern oder wollten mich ausnehmen wie ’ne Weihnachtsgans, wenn ich zu großes Interesse an ihnen gezeigt habe. Wenigstens das bleibt mir bei dir erspart. Du scheinst in vielerlei Hinsicht anders zu sein. Einzigartig.“ Sie klopfte mit der Kohle auf den Zeichenblock, nicht ahnend, wie Recht sie mit dieser Behauptung hatte. „Melde dich zu Wort, wenn dir was nicht passt.“
Die ruckartige Bewegung eines Weißkittels draußen auf dem Gang ließ sie innehalten. Sie schob ihre Brille zurecht und beugte sich etwas vor, aber da war er schon wieder verschwunden.
„Was ich dich immer mal fragen wollte: Wer ist eigentlich dieser niedliche Kerl, der hin und wieder bei dir ist und sich flugs aus dem Staub macht, wenn ich hier aufkreuze? War er das eben? Ihr seht euch verdammt ähnlich, weißt du. Man könnte fast meinen, ihr seid Brüder oder sonst wie verwandt. Ach, stimmt ja, hatte ich ganz vergessen, der Chefarzt hat behauptet, du hättest keine Familie. Allerdings … na ja, wie soll ich mich ausdrücken? Es ist ja nicht so, dass ich ihm nicht glauben würde, trotzdem … glaube ich das nicht so recht. Jeder hat doch Familie oder wie immer man diesen Klotz am Bein nennen mag. Irgendjemanden. Irgendwo. Wirst es nicht für möglich halten, aber sogar ich kann mich schwach erinnern, mal eine gehabt zu haben. Lass mich nicht ewig rätseln. Rede mit mir!“
Mit zusammengekniffenen Augen warf sie einen kritischen Blick von ihrem Blatt Papier zu dem jungen Mann , ergänzte ein paar Striche und nickte schließlich zufrieden.
Sie war derart mit ihrer Zeichnung beschäftigt und in ihren Monolog vertieft, dass sie die Oberschwester nicht bemerkte, die nach dem Schichtwechsel die Station betreten hatte und nun leise, als befürchtete sie, den Kranken zu wecken, die Tür öffnete.
Susann errötete verlegen, als Schwester Erika auf die Fragen antwortete, die sie an Stojanow gerichtet hatte. „Angel hat wirklich keine Familie. Es ist mittlerweile achtundzwanzig Jahre her, dass ich ihn vor unserer Kliniktür gefunden habe.“
Susann starrte Erika an , als wäre ihr gerade ein zweiter Kopf gewachsen.
„Sie haben ihn … ge-fun-den?“ Auch in der Wiederholung ergab es nicht mehr Sinn als zuvor, deswegen fragte sie nach: „Wie gefunden?“
„Er kauerte in einer Ecke hinter den Mülltonnen im Hinterhof, den Daumen im Mund, ganz allein und das, seinem Aussehen nach zu urteilen, offenbar bereits eine ganze Weile. Angel muss zu diesem Zeitpunkt etwa drei Jahre alt gewesen sein, doch er konnte nicht viel mehr als seinen Namen sagen. Er war vollkommen verwahrlost, das lange Haar verfilzt und die Kleidung verdreckt, und viel zu klein für sein Alter. Er schaffte es kaum, fünfzig Meter am Stück zu gehen, und fiel immer wieder von einer Sekunde auf die andere in einen kurzen Schlaf, aus dem ihn nichts und niemand wecken konnte. Dafür fand er des Nachts kaum Ruhe, schlief höchstens fünf Stunden. Es war … sehr schwer in der ersten Zeit. Auch für uns. Wir mussten ihn sogar das Essen lehren.“
Ungläubig schütt elte Susann den Kopf, weil ihr die Worte fehlten.
„Er war nicht in der Lage, bestimmte Speisen bei sich zu behalten – Milchprodukte, wie sie Kinder doch eigentlich lieben, Pudding, Quark oder Grießbrei, nicht einmal Schokolade! Er vertrug keinerlei Obst oder Gemüse. Nicht, dass er allergisch darauf reagiert oder sich geweigert hätte, es zu probieren. Es schien ganz einfach so, als hätte er nie etwas anderes als Brot, Kartoffeln und Fleisch vorgesetzt bekommen. Als wir ihm verschiedene Nahrungsmittel zur Auswahl auf einen Tisch legten, griff er jedes Mal danach, Brot, Kartoffeln, Fleisch … und Wasser.“
Oder Alkohol, was einen furchtbaren Verdacht in ihr und Professor Vogel geweckt hatte.
„Angel war extrem unterentwickelt, in jeder Beziehung. Am augenscheinlichsten jedoch war seine völlige Vernachlässigung im emotionalen Bereich.“ Die Oberschwester sprach leise und schien noch während des Redens zu überlegen, ob es richtig war, persönliche Details von solcher Brisanz preiszugeben. Angel würde nie darüber reden, so viel war sicher. Denn sogar er kannte lediglich einen Bruchteil der Wahrheit.
Erika ließ ihren Blick über das angespannte Gesicht der jungen Frau wandern und spürte mit instinktiver Sicherheit, dass diese ihr Vertrauen nicht missbrauchen würde.
„Er war äußerst aggressiv, in der Hauptsache sich selbst gegenüber, riss sich die Haare aus, lange, schwarze
Weitere Kostenlose Bücher