Zurückgeküsst (German Edition)
wusste schon, was in ihren kleinen Hirnen vor sich ging? Hatte er mich gerade vor mir selbst gerettet oder abgrundtief beleidigt? Hm? Sollte ich dankbar oder wütend sein? Ich zog meinen Schlafanzug an, wusch mir das Gesicht, putzte die Zähne und legte mich ins Bett … frustriert, aber okay, vielleicht auch ein bisschen erleichtert.
Muss ich erwähnen, dass ich nicht viel Schlaf bekam? In meinem Kopf fand ein Schlagabtausch statt wie in einer Talkshow mit übermotivierten Politikern.
Nick und ich leben in verschiedenen Staaten.
Na und? Versucht es mit einer Wochenendbeziehung.
Wir führen völlig unterschiedliche Leben.
Das muss ja nicht sein.
Wir haben es doch schon versucht, und es war ein kompletter Reinfall.
Du hast dich verändert.
Also bitte. Menschen ändern sich nicht.
Er will dich noch.
Er ist gerade weggegangen.
Tu nicht so verschämt.
Wir werden nie über die Vergangenheit hinwegkommen.
Hmm, das stimmt vielleicht.
Die Vergangenheit macht mir schrecklich zu schaffen.
Ja. Okay, du hast gewonnen.
Seufzend schlug ich die Bettdecke zurück, stand auf, knipste das Licht an und erntete einen verwirrten und vorwurfsvollen Blick von meinem Hund. Toll. Es war drei Uhr – keine Zeit, in der schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden sollten.
Da tat ich etwas, das ich schon sehr lange nicht mehr getan hatte. Ich setzte mich vor einen Spiegel und betrachtete eingehend mein Spiegelbild.
Ich wusste – zumindest theoretisch –, dass ich hübsch war. Vielleicht konnte man sogar sagen: schön. Die meisten Menschen auf der Welt beneideten mich um mein Haar. Ich hatte große grüne Augen. Ausgeprägte Wangenknochen, aber trotzdem sehr feminine Gesichtszüge.
Allerdings war es genau das Gesicht meiner Mutter.
Es war nicht nur so, dass ich ihr ähnlich sah … ich war praktisch ein Klon. Jeden Tag der letzten einundzwanzig Jahre … jeden einzelnen Tag … musste ich im Spiegel das Gesicht der Frau sehen, die mich verlassen hatte. Ich hatte ihre Stimme seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gehört. In all dieser Zeit hatte sie nichts weiter geschafft, als vier Postkarten mit insgesamt zwölf Sätzen zu schicken.
Und seit diesem Tag war ich genauso alt wie sie an jenem Tag, an dem ich sie zuletzt gesehen hatte.
Es war eine quälende Vorstellung.
Der Briefumschlag steckte noch immer in meiner Laptoptasche. Langsam stand ich auf, holte ihn heraus, setzte mich wieder hin, und nach einem weiteren Blick in den Spiegel öffnete ich ihn.
17. KAPITEL
A ls ich am nächsten Morgen vom Gassigehen mit Coco zurückkehrte, saß Nick schon beim Kaffeetrinken und starrte aus dem Fenster des kleinen Hotelrestaurants. Mein Hund sprang neben ihm auf die Bank und stibitzte eine Scheibe Speck, und ich wuschelte Nick kurz durchs Haar, bevor ich mich setzte.
„Hey“, sagte er und sah mich ein wenig verdutzt ob dieser zärtlichen Geste an.
„Selber hey“, erwiderte ich. „Gut geschlafen?“
„Eigentlich nicht. Ich habe stundenlang wach gelegen, weil ich spitz war wie ein schmachtender Zehntklässler.“
„Okay, zur Kenntnis genommen“, entgegnete ich schmunzelnd. „Und wie sieht’s sonst aus? Bist du wild entschlossen, heute nach Minnesota zu fahren?“
Er kniff leicht die Augen zusammen. „Warum?“
„Hättest du noch mal Lust auf einen kleinen Umweg?“
Er musste gespürt haben, dass etwas Entscheidendes in der Luft lag, denn er sah mich lange und prüfend an, als könnte er bis ins Innerste meiner Seele blicken. (Wow. Klingt kitschig, ich weiß. Tut mir leid.) „Wo willst du denn hin?“
„Nach Aberdeen, South Dakota. Das liegt so drei, vier Stunden von hier entfernt. Wenn ich fahre wohlgemerkt.“
„Und was ist in Aberdeen?“
„Du meinst, abgesehen vom Märchenland mit Humpty Dumpty und Dorothys gelbem Ziegelsteinweg?“, fragte ich, da ich mich ein paar Stunden zuvor im Internet über die Gegend schlaugemacht hatte. Ich trank einen Schluck von seinem Kaffee, was mir einen strengen Blick einbrachte.
„Ja, abgesehen davon.“
„Meine Mutter.“
Nachdem ich diese Worte laut ausgesprochen hatte, veränderte sich irgendetwas in mir, denn auf einmal konnte ich nicht mehr so locker plaudern. Mir zitterten die Hände plötzlich so stark, dass ich Nicks Kaffee verschüttete. Er nahm mir die Tasseab und hielt meine beiden Hände ganz fest.
Dann sah er mich an. „Sag einfach, wann es losgehen soll.“
Mein dreizehnter Geburtstag war an einem Samstag gewesen, aber meine Eltern und ich
Weitere Kostenlose Bücher