Zurückgeküsst (German Edition)
waren schon am Freitag nach Boston gefahren, nein, geflogen, oh ja! Die Fähre ging nur bis Woods Hole, von wo aus wir mit dem Bus oder unserem klapprigen Toyota hätten fahren müssen, und der passte einfach nicht zu der glamourösen Nacht, die meine Mutter für mich geplant hatte.
Wir beide hatten bereits wochenlang nach dem allerbesten Restaurant der Stadt gesucht und Ausstattung, Aussicht, Lage, Menü- und Weinkarten diverser Lokalitäten verglichen … nicht, dass ich dort Wein getrunken hätte, aber es war ein Faktor, um die Klasse des Restaurants abzuschätzen. Und Klasse war meiner Mutter sehr wichtig. Schließlich hatten wir uns für das Les Étoiles entschieden. „Es ist perfekt“, hatte sie gesagt. „Das ist ganz eindeutig unser Lokal, Harper. Jetzt müssen wir nur noch deinen Vater ausstaffieren, und es kann losgehen.“
Sie gab mir an diesem Tag schulfrei, und ich war begeistert. Meine Mutter war mir der liebste Mensch auf der Welt, und das war schon immer so gewesen. Sie war viel jünger als die meisten Mütter gleichaltriger Kinder; in einzelnen Fällen sogar eine ganze Generation jünger. Und sie war wunderschön! Sie war ja Model gewesen und legte immer noch großen Wert darauf, umwerfend auszusehen. Noch immer hatte sie Kleidergröße 34, diese fantastischen Haare und wunderschöne grüne Augen. Sie sah gut zehn Jahre jünger aus als vierunddreißig und genoss das in vollen Zügen. Sie flirtete gern, und alle anderen Väter liebten sie und musterten verstohlen ihre super Figur, die sie in tief ausgeschnittenen Tops und engen Jeans oder Miniröcken zur Schau trug. Sie hatte Flair, Stil und verbreitete gute Laune. Ich war so stolz, ihre Tochter zu sein, dass ich es kaum ausdrücken konnte. Der einzige wirkliche Unterschied zwischen uns bestand darin, dass ich eine sehr gute Schülerin war und sie früher eher durchschnittliche Noten in der Schule gehabt hatte. Abgesehen davon waren wir wie Zwillinge.
Wenn meine Klassenkameraden mit Wut, Abscheu und Verzweiflung von ihren Müttern erzählten, hörte ich ungläubig zu. Konnte das sein? Durften die anderen wirklich nicht Pretty Woman sehen? Warum nur? Was war so schlimm daran, dass die Hauptfigur eine Prostituierte war? Sie mussten immer noch früh ins Bett gehen. Meine Mutter ließ mich aufbleiben, so lange ich wollte, und wir sahen dabei noch zusammen fern, aßen Fertiggerichte und lackierten uns gegenseitig die Fingernägel. Die anderen Mütter erlaubten ihren Töchtern nicht, Make-up zu tragen. Pah, konnte man sich so was vorstellen?
Meine Mutter war nicht so. Sie war viel cooler als diese alten spießigen Frauen mit ihren Kurzhaarfrisuren und rosa Haarbändern oder, noch schlimmer, diesen verzweifelten Typen, die sich schon aufgegeben hatten und zwanzig Kilo Übergewicht mit sich herumschleppten, den grauen Haaransatz viel zu spät nachfärbten und sackartige Jeans zu schlabbrigen T-Shirts trugen. Gähn. Nein, Linda – so nannte ich sie, seit ich neun war –, Linda war etwas Besonderes. Sie zeigte mir, wie man sich gut anzog, und kaufte mir richtig schicke neue Sachen mit Stil. Auch wenn wir keineswegs reich waren, wirkten wir doch so und wurden sogar oft für Auswärtige mit Sommerhäuschen gehalten, was meine Mutter besonders stolz machte. Sie lehrte mich, wie man Jungen abservierte oder sie dazu brachte, einen zu mögen, wie man flirtete und wie man sich bei Jungen wie auch Mädchen beliebt machte. Und natürlich zeigte sie mir, wie ich das Beste aus meinem Aussehen herausholte, denn sie pflegte stets zu sagen: „Seien wir doch ehrlich, Harper. Wir sind absolute Hingucker!“ Während andere Mädchen in meinem Alter sich durch die Pubertät quälten, ging es mir blendend. Ich war hübscher. Selbstbewusster. Besser angezogen. Hatte mehr Spaß. Und das alles wegen meiner Mutter, die mir alles beibrachte, was sie wusste.
Und so kam ich am Abend vor meinem dreizehnten Geburtstag in meinem trägerlosen blauen Minikleid und den Sieben-Zentimeter-Absätzen, Lidschatten und ein ganz klein wenig Lipgloss die Treppe herunter. Mein Haar war in griechischem Stil frisiert, mit auf dem Kopf festgesteckten Locken, ummeinen langen, schmalen Hals besser zur Geltung zu bringen. Mein Vater verschluckte sich an seinem Bier.
„Linda!“, stieß er hervor. „Sie ist dreizehn, um Himmels willen!“
Meine Mutter kam aus dem Schlafzimmer. „Und sie sieht umwerfend aus! Schau dich nur an, Harper! Mein Gott, wir sehen aus wie Schwestern!“ Und das stimmte.
Weitere Kostenlose Bücher