Zurückgeküsst (German Edition)
jedoch nahm ich den wunderbaren Ausblick, der mich nach einem langen harten Tag oftmals beruhigen konnte, kaum richtig wahr.
Hör auf zu grübeln, befahl ich mir. Ich hatte tatsächlich noch etwas zu tun. Als ich ins Haus ging, bemerkte ich das Blinken meines Anrufbeantworters.
Nachricht eins. Heute, achtzehn Uhr vier. „Harper? Hier ist Tommy.“ Ich hörte ein tiefes Seufzen. „Hör zu, ich hab’s mir noch mal überlegt. Ich liebe sie nämlich, weißt du, und vielleicht war dieser FedEx nur ein Ausrutscher, und wir können mit ein bisschen Eheberatung alles wieder hinkriegen. Mit mehr Eheberatung,meine ich. Ich weiß nicht. Tut mir leid, dass ich dich zu Hause anrufe. Bis morgen.“
„Du Armer“, murmelte ich automatisch. Die Frau meines Rechtsanwaltsfachangestellten hatte ihn mit dem FedEx-Mann betrogen, und Tommy hatte überlegt, sich scheiden zu lassen. Ich würde ihn zwar nicht vertreten – es war niemals klug, einen Freund zu vertreten, wie ich gelernt hatte –, aber Tommy hatte beschlossen, sich an meiner Schulter auszuweinen, auch wenn ich trotz meiner guten Absichten nicht viel Trost zu bieten hatte.
Nachricht zwei. Heute, achtzehn Uhr siebenundzwanzig. „Harper? Ich bin’s, Willa! Ich versuche nachher, dich auf dem Handy zu erreichen. Warte mal, habe ich jetzt gerade deine Handynummer gewählt? Oder ist es dein Festnetzanschluss? Moment … okay, es ist das Festnetz. Tja, dann also bis später! Ich hab dich lieb!“ Trotz meiner Befürchtungen wegen ihrer geplanten Hochzeit musste ich lächeln. Süßes kleines Mädchen! Fehlgeleitet, okay. Aber ein fröhlicher, unbeschwerter Mensch!
Nachricht drei. Heute, neunzehn Uhr eins. Da hatte ich Dennis gerade den Heiratsantrag gestellt, was mir jetzt so vorkam, als wäre es vor mindestens einem Jahr geschehen.
Nachricht drei war … einfach nur Schweigen. Niemand sagte etwas … aber die Person hatte auch nicht sofort aufgelegt. Eine Sekunde lang bebte mein Herz, und ich stand wie angewurzelt da.
Würde Nick mich anrufen, jetzt, da unsere Geschwister heirateten?
Nein, er hatte meine Nummer ja gar nicht – sie war nicht offiziell gelistet. Und selbst wenn er sie hätte, würde er mich niemals anrufen. Dann piepste die Maschine und erlöste mich aus meiner Starre. Sie haben keine weiteren Nachrichten.
Ich überprüfte die Nummer auf dem Telefon. Es war eine Festnetznummer.
Wahrscheinlich ein Telefonverkäufer.
Fast ohne nachzudenken, tapste ich barfuß in mein Schlafzimmer. Ich zog den Stuhl meines Schminktischchens an meinen Wandschrank, stellte mich darauf, tastete auf dem obersten Regalund holte eine große Hutschachtel herunter. Dann setzte ich mich aufs Bett und hob … ganz langsam … den Deckel. Da war der Seidenschal, den Willa mir vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte, in verschiedenen Grüntönen, sodass ich mit meinen rot gelockten Haaren und den grünen Augen damit ausgesehen hatte wie aus einer Anzeige für das irische Fremdenverkehrsamt. Die schwarze Wollmütze, die meine Großmutter gestrickt hatte, als ich nach Amherst gefahren war, kurz bevor sie starb. Meine zerlesene Ausgabe von Wer die Nachtigall stört . Ich hatte immer gedacht, dass ich nach Harper Lee benannt worden war – wie viele Harpers gab es denn schon? –, und in dem Jahr, als meine Mutter uns verließ, hatte ich das Buch neunmal gelesen und nach einem Hinweis gesucht, wie meine Mutter dieses Buch über den wohl aufrechtesten Helden der Literaturgeschichte so sehr lieben und dennoch ihr einziges Kind verlassen konnte.
Unter alledem lag das, was ich gesucht hatte.
Ein Foto. Ich nahm es auf. Meine Hände schienen ein wenig zu zittern, und mein Atem stockte, als ich es ansah.
Gott, was waren wir jung gewesen!
Das Foto war am Morgen unserer Hochzeit aufgenommen worden; Dad wollte seine Kamera für die Zeremonie am Nachmittag testen. Nick und ich hatten uns nicht an dieses „Ich seh dich erst am Altar wieder“-Ding gehalten, da wir von solchen abergläubischen Ritualen überhaupt nichts hielten (obwohl, im Nachhinein …). An jenem Morgen war es kühl und bedeckt gewesen, und Nick und ich hatten uns draußen auf Dads Verandatreppe gesetzt, Kaffeebecher in der Hand, ich in einem Morgenmantel aus Flanell, Nick als New Yorker in einem ausgeblichenen Yankees-Shirt und kurzer Hose, das dunkle Haar zerzaust. Er sah mich an, lächelte kaum merklich, und seine dunklen Augen, die so tragisch und verletzlich und hoffnungsvoll zugleich aussehen konnten, strahlten
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