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Zusammen Allein

Titel: Zusammen Allein Kostenlos Bücher Online Lesen
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bessere Wissen hoffte ich, die Stimme meiner Mutter zu hören. Ich stellte mir vor, wie sie mir Grüße sendete, wie sie mich um Verzeihung bat. Ich wartete vergeblich. Was ich stattdessen hörte, waren Berichte über Dissidenten und politische Gefangene. Plötzlich horchte ich auf. Eine tiefe Männerstimme berichtete:
    In Kronstadt, rumänisch Braşov, kam es am 15.   November zu einem spontanen Aufstand von Fabrikarbeitern. Die mit Bussen herangekarrten Arbeiter der Steagul Roşu, der
Hidromecanica und der Tractorul gingen nicht wie geplant jubelnd an die Wahlurnen, sondern drangen gewaltsam ins Rathaus ein. Sie wollten damit gegen die vor Kurzem vorgenommenen Lohnkürzungen und die manipulierten Wahlen protestieren, bei denen die Ergebnisse von vorneherein feststehen. Wie Augenzeugen berichteten, wurde der Aufstand innerhalb weniger Stunden niedergeschlagen. Es gab über sechzig Verhaftungen.
    War das möglich? Mein Blick fiel auf den Kalender. Es war Dienstag, der 17.   November 1987.   Demnach wäre der Aufstand vor zwei Tagen gewesen. Im Fernsehen hatten sie Ceauşescu bei Gesprächen mit dem ägyptischen Präsidenten gezeigt. Alles lief bestens. Von einem Aufstand war mir absolut nichts bekannt. Rasch holte ich Puscha aus der Küche, erzählte ihr atemlos, was ich gehört hatte, doch sie schüttelte den Kopf.
    »Märchen. Nicht sehr glaubwürdig«, seufzte sie und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Wir hätten doch etwas mitbekommen. Allerdings stehen in der Postăvarul zwei Wasserwerfer herum, die sind   …« Mehr konnte ich nicht verstehen, sie war davongeeilt.
     
    Ja, auch Wendi hatte
Radio Freies Europa
gehört, auch meine Freundin Liane. Ihr Vater hatte an der Wahl teilnehmen müssen, doch von einem Aufstand, einer Revolte gar, hatte er nichts mitbekommen. Vielleicht, so dachte ich, stimmte es ja doch, und die Amerikaner versuchen durch Nachrichtenfälschungen ihre Macht in Richtung Osten auszudehnen. Zuzutrauen wäre es ihnen. Mit diesem Gedanken vergaß ich das Ganze.
    Doch als ich am nächsten Nachmittag am Gebäude der Partei- und Kreisverwaltung vorbeikam, bemerkteich, dass vier Bauarbeiter mit Renovierungsarbeiten beschäftigt waren. Die hölzerne Eingangstür des gepflegten gotischen Bürgerhauses wurde erneuert. Beim Weitergehen blieb mein Blick am grünen Sockelabsatz hängen:
Nieder mit C – gebt uns Essen!
stand dort geschrieben. Ein erster Deckanstrich hatte die hungrigen Zeilen nicht zu übertünchen vermocht. Keine Ahnung, was in mich gefahren war, plötzlich fiel mir meine Kamera ein, ich holte sie aus der Schultasche. Für die Schülerzeitung hatte ich ein Klassenfoto geschossen, jetzt aber handelte ich ohne Auftrag, nahm den übertünchten Häusersockel ins Visier, drückte ab. Klick und noch einmal. Da war der Reiz, der Reiz des Verbotenen, das gebe ich gerne zu. Rasch blickte ich mich um, dann hastete ich davon. Mit klopfendem Herzen. Ich kam nicht weit. Gerade einmal bis zur nächsten Straßenecke, aber weit genug, um mich sicher zu fühlen. Als sie mir die Schultasche wegrissen, dachte ich zunächst an Diebe und schrie. Doch dann sah ich ihre Schuhe. Lederschuhe, neu. Da verstummte ich und wusste, meine Kamera würde ich nie wiedersehen.
     
     
    Dreimal täglich, wie eine Prinzessin, hatte der Herbst sich umgezogen und uns demonstriert, dass auf ihn kein Verlass war. Doch als der Winter ihn mit Wucht aus dem Land vertrieb, vermissten wir die launische Prinzessin. Der Winter regierte wie ein absolutistischer Herrscher. Über Nacht wurde es weiß in Kronstadt. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen, wirbelte die Kristalle zu bizarren Schneezungen auf, die Sonne ließ tagsüber Stalaktiten an den Dachrinnen wachsen.
    Gas gab es morgens von fünf bis sieben, danach floss das Gold in die Fabriken. Erst am Abend konnte man wieder kochen oder heizen. Wer nicht zur Arbeit ging, musste sich tagsüber in Geschäften herumdrücken, damit er nicht erfror. Jetzt rächte sich, dass Puscha ein Organisationstalent war.
    Sie verließ um halb sechs das Haus, um im Milchladen auszuhelfen. Wenn sie wiederkam, gab es kein Gas mehr. Widerwillig stand ich mit ihr auf und kochte das Mittagessen vor. Französische Erdäpfel, Topfenknödel, Suppe. Immer musste es schnell gehen, immer musste es dem Anspruch – einfach aufzuwärmen – gerecht werden.
    In unserer Küche wuchs ein Ofenrohr aus dem Fenster. Mittags wärmten wir das Essen auf einem alten Kohleherd, der zehn oder zwanzig Jahre

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