Zusammen Allein
klingelte in meinen Ohren. Wir hatten kaum über sie geredet. Jetzt war mir klar, dass die beiden den Kontakt nie abgebrochen hatten.
Ohne Gruß ging ich in mein Zimmer und schrieb einen Brief an die Deutsche Botschaft in Bukarest. Mein Großvater hatte meine Anfrage nicht beantwortet, vielleicht war seine Adresse tatsächlich veraltet. Aber mir war klar, dass ich nicht aufgeben durfte. Dieser Unbekannte, das fühlte ich, wartete auf mich.
Stillstand. Wochen vergingen, ohne dass etwas geschah. Außer zur Schule ging ich nirgends mehr hin. Zu keiner Versammlung, zu keiner Abendveranstaltung. Selten, viel seltener als früher, traf ich mich mit Karin. Ihre Eltern hatten ihr den Kontakt mit mir untersagt. Mit der Ausreise sah es gut aus, ein Beamter machte ihnen Hoffnung. Daher wollten sie kein Risiko eingehen. Manchmal hielt Karin sich an dieses Verbot, manchmal nicht.
Jeden Mittwoch fand Puschas Frauenkränzchen statt, am Tag darauf das gemischte Kränzchen. Zwei Männer, die Ziller Kledi, die Jakobi Irmi und Puscha spielten in der Küche Karten, lachten, redeten und tranken Ţuică. Danach lachten sie noch mehr. Ich fühlte mich in letzter Zeit schlecht in ihrer Gegenwart. Sie waren so alt und doch so fröhlich.
Da ich nicht viele Jungs in meinem Alter kannte, war es schwer, sich zu verlieben. Am Ostermontag aber bekam ich eine neue Chance. Christian, der Bruder einer Schulfreundin kam zum Spritzen vorbei. Aus einer großen Flasche Rotes Moskau sprühte er, was das Zeug hielt. Zuerst bespritzte er Puscha, dann mich.
»Auf dass du blühst und gedeihst wie eine Blume«, sagte er sein Sprüchlein auf. Er traf nicht immer meine Haare, die jetzt wieder lang waren, schön waren, dunkel glänzten. Bis vor Kurzem hatte Petre darauf gewartet, dass sie genau diese oder mindestens diese Länge erreichten. Doch sein Interesse an mir schien endgültig erloschen. Ein Feuer, das nie richtig gebrannt hatte.
Als Christian sich zu mir herunterbeugte und mir ins Ohr flüsterte, ich sei etwas ganz Besonderes, lachte ich ihn aus. Ich lachte ihn aber auch an und schüttelte unmerklich den Kopf, weil Puscha ihm Schnaps anbot. Unter Männern herrschte Saufzwang. Er aber lehnte mit den Worten ab: »Das Zeug schmeckt nicht.«
Dieser Satz imponierte mir gewaltig, und ich bat ihn, noch etwas zu bleiben. Christian aß sechs Buchteln, aß genüsslich, während ich ihm beim Essen zuschaute. Ich sah, dass er schöne Zähne hatte. Ebenmäßig, war das passende Wort dafür. Auch die Augen gefielen mir, dunkelbraun, fast schwarz. Allerdings redete er mit vollemMund. Krümel und Marmeladenspritzer landeten auf seinem weißen Hemd.
»Isch, ’tschuldigung«, er schluckte, »… ich bin in keinem Kränzchen, und wir können zusammen ins Kino gehen, wenn du willst.«
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
»So halt.«
Auch sein Lachen war schön. Es ließ ihn jung und freundlich aussehen.
Noch für den selben Abend verabredeten wir uns. Und lernten uns näher kennen. Er stellte mir ein paar Fragen, ich schenkte ihm ein paar Antworten. Dann küssten wir uns, so wie man das eben macht. Aber da war keine Leidenschaft, nur ein gewisses Interesse. Trotzdem bekam ich eine Gänsehaut, vor allem als er mir unter die Bluse griff. Deshalb dachte ich, es wäre vielleicht doch Liebe. Kein Mensch sagt einem, was Liebe eigentlich ist und ob es unterschiedliche Formen gibt und wo das rein Körperliche anfängt. Auch Petre hatte mir darauf keine Antwort geben können oder wollen.
In allen Filmen, die ich gesehen, und Büchern, die ich gelesen hatte, war die Liebe immer da und immer eindeutig und wie für die Ewigkeit gemacht. Christian erging es nicht anders, auch er war auf der Suche. Doch leider hatte er keinen langen Atem. Dass ich die Schönste war, schien er bald vergessen zu haben. Wenn ich zu spät zu einem Treffen kam, schimpfte er, und ich schimpfte zurück. Nach einer Woche benahmen wir uns wie ein Ehepaar, und da wurde mir klar, dass ich weitersuchen musste.
Solange sich das Leben als Schwarz-weiß-Film darstellte, schlief ich viel. Nach der Schule kam ich heim und legte mich ins Bett. Nicht weil ich müde war, sondern weil ich träumen wollte. Meine Träume waren farbig, und manchmal konnte ich sie beeinflussen. Natürlich träumte ich von Petre, manchmal aber auch von jemand anderem. Weil ich mit vollem Bauch besser einschlafen konnte, aß ich mehr als nötig. Ich nahm zu, drohte, mich in einen Kasten zu verwandeln.
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