Zusammen Allein
In einer Eistasche hatte jemand doppelte Wände eingezogen. Dazwischen stapelten sich
Mexikanischer Tango
von A. Mastretta,
Die Wand
von Marlen Haushofer und zwei Bücher von Doris Lessing. Einer Verdurstenden gleich sog ich den Stoff auf, merkte, wie die Geschichten mich veränderten. Mit Petre über diese Bücher zu sprechen, wäre das Größte für mich gewesen. Daher gab ich sie dem Kapitän mit, als er seinen Sohn das erste Mal im Gefängnis besuchte. Doch die Bücher, im Vorfeld schriftlich abgesegnet, wurden konfisziert. Immerhin, der Kapitän hatte eine Stunde lang mit Petre reden dürfen. Joi, er sei dünn geworden, das ja, gab der Kapitän zu, aber er hätte gelächelt, die ganze Zeit über gelächelt.
Auf einen Zettel schrieb ich Dinge, die zu erledigen waren:
Petre aus dem Gefängnis befreien
Schnürsenkel besorgen
Dem Westotata antworten
Weil Petres Briefe uns unregelmäßig erreichten, ahnten wir, dass er Schwierigkeiten hatte oder bestraft wurde. Zweimal kamen auch Pakete zurück. Der Kuchen, vom Mund abgespart, war verschimmelt. Wir mussten ihn Leo geben. Ich weinte viel und lachte viel. Ich war glücklich und traurig. Ich war nahe daran, die Schule vorzeitig zu beenden. Das Schlimmste war, ich konnte mit niemandem darüber reden, auch mit Sebastian nicht.
Er und ich, keine Ahnung, was wir damals waren. In der Natur kommt es immer wieder zu abnormalen Paarbildungen, hätte Herr Honigberger vielleicht gesagt. Wir waren mehr als gute Freunde und weniger als ein Liebespaar. Wenn ich Sebastian unter normalen Umständen traf, in der Schule oder zu Hause, dann küsste ich ihn auf die Wange, mehr nicht. Wenn wir zusammen in Urlaub fuhren, dann durfte er meinen Oberkörper erforschen, mehr nicht. Es war wie ein Spiel mit dem Feuer und eine gute Übung, so hoffte ich, für ein Wiedersehen mit Petre.
Wenn man die Sekuritate überlistet hat, dann ist man erwachsen. Karin hatte mir mit einem Westbesucher die Botschaft übermittelt, dass mein Bittbrief gut angekommen und weitergeleitet worden sei. Meinen achtzehnten Geburtstag feierte ich nicht. Es war nicht mehr nötig, mir irgendetwas zu beweisen. Meine Kindheitmusste ich nicht umständlich wie ein zu eng gewordenes Kleid abstreifen, sie war mir bereits vor zwei Jahren entrissen worden, spätestens aber, seit mein Liebster im Gefängnis saß.
Von dem Zeitraum gibt es kaum Bilder in meinem Kopf. Die Zeit tröpfelte wie ein dünnes Rinnsal. Aber ich erinnere mich an eine innere Ungeduld, die sich in all meinen Beziehungen widerspiegelte. Ich ließ meine Eltern links liegen, was nichts Neues war, aber ich half auch Puscha seltener im Haushalt, und Sebastian diente mir nicht nur als Handlauf, sondern auch als Blitzableiter.
Der Juni kam, der Juli. Die ersten Wassermelonen türmten sich neben der Markthalle zu grünen Pyramiden. Kleine, eingeritzte Dreiecke kennzeichneten die reifen Früchte. Dieser Überfluss an Saft, an köstlicher Süße. Wenn es Melonen gibt, sollte die Welt in Ordnung sein.
Im Fernsehen zeigten sie Bilder vom Treffen der Warschauer-Pakt-Staaten. Erich Honecker war zur letzten Stütze Ceauşescus geworden. Und Petres Briefe wurden immer kürzer. Ich musste etwas tun, um mich abzulenken. In drei Tagen grub ich den gesamten Garten um. Und pflanzte Kartoffeln.
»Viel zu spät«, urteilte Puscha, »die werden nichts mehr.«
9
Aus Energiespargründen war der Störsender, der verhindern sollte, dass das rumänische Volk Nachrichten aus dem kapitalistischen Feindesland empfangen kann, abgeschaltet worden. In der ganzen Republik, schon seit Jahren, herrschte daher ein prima Empfang. Dennoch hatte ich den Bericht des amerikanischen Senders
Radio Freies Europa
nicht gehört.
Liane stand am Tag nach meiner Rückkehr von einem kurzen Badeurlaub mit Sebastian vor unserem Hoftor.
»Kann ich reinkommen?«
Wie es gelaufen sei, wollte sie wissen, und ob ihr Bruder sich anständig benommen hätte? Als ich unwirsch den Kopf schüttelte, zog sie mich in den Garten, legte den Finger auf den Mund. »Im Westrundfunk haben sie vom Fall Petre Dobresan berichtet«, wisperte sie mir zu, »und in schweizer Schulen sammeln sie Unterschriften für seine Freilassung.« Ich konnte es nicht fassen. Sie nannte Petres Namen im gleichen Atemzug mit den Namen berühmter rumänischer Schriftsteller.
Also hatte mein Brief tatsächlich Früchte getragen. Wenn das kein Wunder war. Es gab eine Welt außerhalb unserer Welt, und diese Welt hörte uns atmen
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