Zusammen Allein
worauf sie anspielte, doch das war egal. Nachdem ich mich aufgerichtet hatte, sah ich mir Puscha genauer an. In den zwei Jahren, seit wir uns kannten, war sie nicht gealtert. Ihre Haare waren immer sorgsam gefärbt und frisiert, zeigten lediglich am Ansatz weiße Stellen, kleine Zähne, die sich aus der Kopfhaut drängten. Es stimmte, ich kostete sie den letzten Nerv, und um Petre machte sie sich entsetzliche Sorgen, doch das sah man ihr nicht an.
»Hey.« Sie war mit einem ihrer Ohrringe in meinen Haaren hängen geblieben, wir lachten. Noch während wir, verhakt wie siamesische Zwillinge, nach einer Schere suchten, wollte sie wissen:
»Und was haben deine Eltern zu sagen?«
»Das interessiert dich wohl. Sie schreiben immer das Gleiche. Es gibt drüben keinen Schnee, nicht ein Fitzelchen, von allem anderen aber zu viel.« Und ein Päckchen sei unterwegs, berichtete ich. »Nach Petres Brief und dem deines ehemaligen Geliebten brauchst du abernicht zu fragen, du musst schon selbst Briefe schreiben, wenn du Wissenswertes aus der Welt hören willst.«
Ich sagte es im Spaß, lächelte dabei, doch man konnte das Band ihrer Zuneigung förmlich reißen hören. Empört drehte sie sich zur Seite, an diesem Tag und die ganze folgende Woche sprach sie kein Wort mehr mit mir.
Otatas Brief. Ich hatte ihn zwischen meiner Geburtsurkunde und den Schulzeugnissen versteckt. Von irgendjemandem musste ich die schlechte Angewohnheit geerbt haben, in fremden Schubladen zu wühlen.
Hallo, Agnes .
Deine Mutter hat mir geschrieben. Wie ich mich gefreut habe, wenngleich der Ton unterkühlt war. Sie will mich nicht sehen. Nun , was soll ich dazu sagen? Es sei zu spät, schreibt sie. Als sie noch in Rumänien war, hätte sie sich gefreut, von mir zu erfahren, jetzt bin ich ihr egal. Aber Du willst Deinen Otata kennenlernen. Mein Gott, wann habe ich dieses Wort das letzte Mal gehört, es muss Jahrzehnte her sein. Hier sagt man Opa. Nicht dass mich jemand so nennen würde, denn ich habe keine Enkelkinder, leider . Deshalb stichst Du mit Deiner Grabgabel in brachliegende Erde. Nicht dass ich verhärtet wäre, das nicht, doch ein bisschen merkwürdig kommt mir das schon vor. Meine Frau wusste nichts von Deiner Mutter, natürlich auch nichts von Dir, daher gab es Probleme, die sind jetzt aber ausgestanden. Trotzdem ist es für mich nicht so einfach, der Vergangenheit entgegenzutreten. Jahrelang habe ich mich
darum bemüht, Deine Mutter kennenzulernen, jetzt scheint es …
An dieser Stelle war der Satz unterbrochen und mit einem schwarzen Kugelschreiber vollendet worden.
… tatsächlich zu spät zu sein. Im nächsten Jahr werde ich siebzig. Versteh mich nicht falsch, ihr Brief war sehr ablehnend, sie schrieb mir, dass sie einzig und allein den Kontakt gesucht hätte, um Dir einen Gefallen zu tun. Das ist schon sehr deutlich. Trotzdem , wenn Du nach Deutschland kommst, dann kannst Du zwei Tanten und zwei Onkel kennenlernen. Ich habe wunderbare Kinder. Die Jüngste, Beate , ist erst 34 Jahre alt. Vielleicht werdet Ihr Freundinnen.
In Zuneigung,
Dein Großvater
An manchen Tagen war ich nahe daran, Puscha diesen Brief zu zeigen. Insgeheim hoffte ich, sie würde ihn finden und mit mir darüber sprechen wollen. Ich verstand ihn nicht, verstand ihn wirklich nicht. Den Brief nicht, meinen Otata nicht.
Neue Otata-Briefe erreichten mich nicht, aber ein Paket mit Blümchenkarte. Er dachte an uns, immerhin.
Das Frühjahr kam verspätet. Ceauşescu aber sagte bereits neue Ernterekorde für das Jahr 1989 voraus. Achselzuckend hörte man ihm zu. Die Versorgung mit dem Lebensnotwendigsten hatte sich durch den schrecklichenWinter noch verschlimmert. Alle Vorräte schienen aufgebraucht. Mehl, Schmalz oder gar Fleisch wurden selbst auf dem Schwarzmarkt rar. Rumänien sollte schuldenfrei werden. Wir hungerten. Zwei Westpäckchen kamen gleichzeitig an. Beide von meinen Eltern. Wir aßen Knäckebrot, kochten Champignoncremesuppe, benutzten Milchpulver, um Grießbrei zuzubereiten. Die Westgaben mussten reichen, bis wieder Gemüse auf dem Markt angeboten wurde.
Meinen Eltern erzählte ich nichts von der Kälte, denn ich schämte mich, als wäre ich schuld daran. Von Petre hätte ich gerne berichtet, doch das durfte ich nicht. Stattdessen listete ich die Bücher auf, die ich mir aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Mutti verstand und schickte mir mit dem nächsten Besucher, der nach Kronstadt kam, verbotene Lektüre.
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