Zusammen Allein
heimlich Tagebuch geführt und seine Gedichte sorgsam versteckt. Jetzt verschenkte er sie großzügig. Wenn seine ausgestreckte Hand mir ein Blatt darbot, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Und nahm es dennoch entgegen. Und bedankte mich. Das glaubte ich ihm schuldig zu sein. Ich rede von der Schuld, für die man nicht verantwortlich ist, sie klebt an einem, und man kann sie nicht tilgen.
Obwohl ich mit den Gedichten nichts anfangen konnte, übersetzte ich sie ins Deutsche und hob sie in einem Ordner auf. Nie hatten sie einen Titel, als wären sie herausgeschnitten worden aus etwas Größerem.
Mit einem Spaziergang hatte man Petre nie locken können. Er war ein Stadtmensch, auf rollende Fahrzeuge angewiesen. Zu Fuß gingen nur Bauern und Verrückte, seine Worte, nicht meine. Als die Tage kälter wurden und er nicht mehr im Garten sitzen konnte, begann er zu wandern. Leo bot ihm einen willkommenen Vorwand, täglich die Zinne hoch- und wieder herunterzuwandern.Oft legte er auch den Weg bis zur Schullerau zurück. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Dicker wurde er dabei nicht.
»Wenn du nicht aufpasst«, schimpfte Puscha, »verwandelst du dich in einen Geist. Und hui, fliegst du davon. Nur noch Haut und Knochen bist du. Joi, werden die Engel sich freuen. Aber wir, sprich, Petre, willst du uns alleinlassen, hier im Elend?« Die Stimme meiner Großmutter war leise geworden, werbend, liebkosend. So sprach sie selten. Die rechte Handfläche hatte sie sich an die Wange gelegt, als wolle sie sich beschwichtigen, auch diese Geste wirkte höchst ungewohnt. Ihr Busen seufzte. Petre lächelte sie versöhnlich an und ließ sich eine weitere Brotscheibe kredenzen.
Ein neuer Winter kündigte sich an, und an den Zuständen in unserem Land hatte sich nicht das Geringste geändert. Die Versorgung mit Gemüse und Obst, im Sommer durch das Angebot aus kleinen und kleinsten Gärten verbessert, brach im Herbst zusammen. Im Rundfunk und im Fernsehen wurde von Ceauşescus Reisen berichtet. Der strebsamste Arbeiter des Landes kämpfte sich unermüdlich durch Staatsbankette.
Das Volk fror und hungerte geduldig.
»Joi, wo ist dieser Winter in die Lehre gegangen?«, stöhnte Puscha. »Es ist erst November, und schon hockt mir der Schmerz zwischen den Schulterblättern.« Morgens, wenn ich zur Schule ging, lagen die Spatzen steif gefroren auf dem Rücken. Ihre dünnen Beinchen zeigten pfeilgerade zum Himmel. Tagsüber tauten sie etwas auf, dann öffneten sich die Zehen wie dunkleBlütensterne. Niemand hob sie auf. Fangen Italiener nicht Singvögel mit Netzen?
Es war eine sehr helle Vollmondnacht. Petre, der nicht mehr im Dunkeln schlafen konnte, hatte die Vorhänge nicht zugezogen. Auf dem Fußboden neben seinem Bett stand die kleine Nachttischlampe, sie tat ihr Bestes, um Helligkeit und Zuversicht auszustrahlen.
Vorsichtig hob ich die Bettdecke an. Ob er schlief? Ich wusste es nicht. Wusste nicht einmal, was ich mir wünschen sollte. Seltsam gekrümmt lag er da, und es war schwierig, einen Platz neben ihm zu finden. Wie auch immer ich es anstellte, stets bohrten sich irgendwelche Körperteile, Ellenbogen, Knie oder Hüftknochen in meinen Körper. Trotz der Kälte trug er einen kurzärmligen Schlafanzug aus Kunstseide.
Er war so dünn. Eine federleichte Hülle. Die Muskeln verschwunden, die Filetstücke also, in die ich meine Finger graben wollte. Seine Konturen hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt, ich suchte tastend nach Erinnerungen, vergeblich. Tastend suchte ich nach Begehren, auch das wollte nicht erwachen. Er blieb steif, gekrümmt.
»Haben sie dir Gewalt angetan?« Er streckte sich, seufzte. »Sag doch was«, bettelte ich. Und dachte, ein bisschen Reden würde ihm guttun. Doch es dauerte lange, bis er endlich antwortete, und von Ausführlichkeit konnte keine Rede sein.
»So einfach ist das nicht. Gewalt steckt nicht nur in Fäusten oder im Stahl von Rasierklingen. Es gibt versteckte Gewalt, die töten kann. So wie es einen Friedengibt, der einem bewaffneten Krieg in nichts nachsteht.« Mehrmals holte er Luft, doch er sagte nichts mehr. Nach einer halben Stunde schälte ich mich unter der Bettdecke hervor, strich ein letztes Mal über die zarte Linie zwischen seinem Haaransatz und dem Nacken und verließ wortlos das Zimmer.
Ende November wollte Petre an die Universität zurückkehren und sein Studium wieder aufnehmen. Doch der Zutritt wurde ihm verwehrt. Eine Gruppe Kommilitonen drängte ihn
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