Zusammen Allein
wie es inmir brodelte, etwas Neues, Ungeheuerliches lag in der Luft. Allein die Tatsache, dass Menschen in der Öffentlichkeit über Proteste sprachen, tuschelnd zwar, glich einer Sensation. Irgendetwas war aufgelodert, und nicht nur Liane, auch ich hatte das Gefühl, dass es sich lohnen würde, diese neue Flamme am Leben zu erhalten. Endlich, nach über einer halben Stunde, waren wir in den Laden aufgerückt, hinter uns schloss sich die Tür.
»Und was machst du?«, bohrte ich.
»Das willst du nicht wirklich wissen, oder.«
»Doch.«
»Ich fahre.«
»Du fährst?«
»Ja, morgen. Sebastian kommt auch mit.«
»Und die Schule?«
»Bravo, du denkst wirklich an alles«, machte sich Liane über mich lustig. »So eine Chance bekommen wir nicht noch einmal.«
Verdattert schluckte ich das Gehörte hinunter. Was wird Petre dazu sagen, schoss es mir durch den Kopf, wird er sich freuen, wird er aus seiner Traurigkeit erwachen?
Bis wir an die Reihe kamen, war das Wechselgeld in der Kasse ausgegangen. Die Apotheke schloss vorzeitig, obwohl noch drei Kartons mit Watte vorrätig waren. Natürlich war da die Enttäuschung, so wie jedes Mal, wenn man sich wieder einmal betrogen fühlte, doch meine Euphorie siegte, und lachend verabschiedete ich mich von Liane, versprach anzurufen, dann rannte ich nach Hause.
Vielleicht gibt es auch im Chaos Regelmäßigkeiten. Mein Leben jedenfalls war regelmäßig chaotisch.
Petre war daheim, das sah ich an den feucht schimmernden Winterschuhen, die im Flur standen. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete ich nach oben. Ich klopfte an, doch lange bevor ich seine Stimme hörte, stürmte ich ins Zimmer. In dicker Felljacke und mit Mütze bekleidet, saß er am Schreibtisch und las. Seine Hände steckten in Handschuhen, für jedes Umblättern musste er den rechten oder linken Handschuh ausziehen, nach jedem Umblättern wieder anziehen. Atemlos erzählte ich ihm von den aufgeschnappten Neuigkeiten. Ich strahlte, ich glühte, ich schlug vor, dass wir morgen früh gemeinsam nach Temeschwar fahren sollten.
Mir war nicht aufgefallen, dass Petre weder begeistert aufgesprungen war noch sich sonst wie gefreut hatte, viel zu sehr war ich mit mir selbst beschäftigt gewesen. Dann aber nahm ich seine steife Haltung wahr und dass er mich traurig, fast mitleidig betrachtete.
»Und woher weiß Liane von der Geschichte?«, fragte er sachlich.
»Keine Ahnung, aber ist das nicht egal?«
Nein, das sei es nicht, beharrte er. Ob ich es nicht merkwürdig finden würde, hier in Kronstadt in der Schlange zu stehen und neben und hinter mir würden die Menschen von Protestaktionen im weit entfernten Temeschwar erzählen, als seien alle zur gleichen Zeit informiert worden?
Verständnislos starrte ich ihn an, denn ich wusste wirklich nicht, worauf er hinauswollte. Was war falsch daran, dass dieses Land endlich aus seiner jahrzehntelang anhaltenden Angst und Agonie erwachte? In Russlandund in Ungarn hatten die Kommunisten abgedankt, selbst in der DDR war Honecker entmachtet worden.
»Was ist los, Petre? Hast du nicht Kopf und Kragen riskiert, um für die Meinungsfreiheit einzutreten?«
Ich sei naiv, warf er mir vor, ich hätte immer noch nicht begriffen, wie
die
arbeiten würden. Das Wort
die
spuckte er mir wie eine faule Frucht entgegen.
»Was, bitte, meinst du?«, wollte ich von ihm wissen.
Er stand langsam auf, schüttelte die Beine aus, die kalt und ohne jedes Gefühl zu sein schienen, dann gab er mir zu verstehen, dass wir im Bad weitersprechen sollten. Wir durchsuchten regelmäßig alle Zimmer nach versteckten Wanzen und glaubten, dass die Schlafzimmer nicht abgehört wurden, doch sicher war sicher.
Gemeinsam gingen wir hinunter, gemeinsam setzten wir uns auf den Badewannenrand. Nachdem er den Wasserhahn aufgedreht hatte, begann er zu erzählen: Ja, auch er hätte von dem Gerücht gehört, und er sei sich sicher, dass es mehr als ein Gerücht sei. Er wusste Namen und kannte Hintergründe.
»In bestimmten Zirkeln wird von nichts anderem gesprochen«, sagte er. Laszlo Tökes hieß der Pastor, seit über einem Jahr war er für seine regimekritischen Äußerungen bekannt. Weder die Sekuritate noch der Bischof hätten ihn zum Schweigen bringen können. Seine Predigten seien gut besucht. »Er verknüpft Religion und Politik«, erklärte Petre. »Aber ich kann nicht verstehen, warum die Proteste nicht unterdrückt werden. Ich traue dem Braten nicht. Vielleicht arbeitet dieser Tökes für den
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