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Zusammen ist man weniger allein

Zusammen ist man weniger allein

Titel: Zusammen ist man weniger allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Gavalda
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alles. Und …«
    »Und?«
    Sie zitterte:
    »Ich schaffe es nicht. Ich verstehe es nicht. Ich …«
    Sie weinte:
    »Wo soll ich anfangen?«
     
    »Zuerst einmal habe ich spät geheiratet. Oh! Ich hatte meine Liebschaften, wie die anderen auch. Aber dann … Am Ende habe ich einen netten Jungen geheiratet, um es allen recht zu machen. Meine Schwestern waren schon unter der Haube. Und so habe ich auch geheiratet.
    Aber die Kinder blieben aus. Jeden Monat habe ich meinen Bauch verflucht und beim Wäschekochen geweint. Ich war bei Ärzten, ich kam sogar hierher, nach Paris, um mich untersuchen zu lassen. Ich habe Heilkundler aufgesucht und Medizinfrauen, schreckliche Alte, die mir die unmöglichsten Sachen auftrugen. Sachen, die ich gemacht habe, Camille, die ich gemacht habe, ohne zu murren. Bei Vollmond ein Lamm opfern, ein Weibchen, sein Blut trinken, seine … essen. Oh nein. Es war wirklich barbarisch, glaub mir. Es war ein anderes Jahrhundert. Man nannte mich ›befleckt‹. Und dann die Pilgerreisen … Jedes Jahr bin ich nach Blanc gepilgert, hab einen Finger in das Loch des heiligen Génitour gesteckt, danach habe ich den heiligen Greluchon in Gargilesse gekratzt. Du lachst?«
    »Diese Namen …«
    »Das war noch nicht alles. Man mußte dem heiligen Grenouillard von Preuilly ein wächsernes Votivbild hinlegen, auf dem das gewünschte Kind abgebildet war.«
    »Grenouillard?«
    »Grenouillard, wenn ich’s dir sage! Ach! Was waren sie schön, meine wächsernen Babys, das kannst du mir glauben. Richtige Püppchen. Ihnen fehlte nur noch die Sprache. Und dann, eines Tages, als ich es schon lange aufgegeben hatte, wurde ich schwanger. Ich war schon weit über Dreißig. Du kannst dir das nicht vorstellen, aber ich war schon alt. Mit Nadine, Francks Mutter. Was haben wir sie verwöhnt, was haben wir sie verhätschelt, was haben wir sie verzärtelt, die Kleine. Unsere Königin. Wir haben ihr wohl den Charakter verdorben, muß man annehmen. Wir haben sie zu sehr geliebt. Oder nicht richtig. Wir haben ihr alles durchgehen lassen … Alles bis auf eins. Ich habe mich geweigert, ihr das Geld für die Abtreibung zu borgen. Ich konnte es nicht, verstehst du? Ich konnte es nicht. Ich hatte zu sehr gelitten. Es war nicht die Religion, die Moral, das Getratsche der Leute, das mich abgehalten hat. Es war die Wut. Die Wut. Der Makel. Eher hätte ich sie umgebracht, als sie dabei zu unterstützen, daß sie sich den Bauch kaputtmachen läßt. War ich … War ich im Unrecht? Antworte mir. Wie viele Menschenleben habe ich auf dem Gewissen? Wieviel Leid? Wieviel …«
    »Schhh.«
    Camille strich ihr über die Oberschenkel.
    »Schhh.«
    »Sie … Sie hat ihn dann bekommen, den Kleinen, und sie hat ihn mir dagelassen. ›Hier‹, hat sie gesagt, ›weil du ihn haben wolltest, hier ist er! Bist du jetzt zufrieden?‹«
    Sie hatte die Augen geschlossen und wiederholte unter Schluchzern:
    »›Bist du jetzt zufrieden?‹ hat sie mich gefragt und ihre Koffer gepackt. ›Bist du zufrieden?‹ Wie kann man so etwas sagen? Wie kann man so etwas je vergessen? Wie soll ich jetzt nachts schlafen, wo ich mich nicht mehr aufreibe, wo ich nicht mehr arbeite, bis ich vor Erschöpfung umfalle, he? Sag es mir. Sag es mir. Sie hat ihn dagelassen, kam einige Monate später wieder, hat ihn mitgenommen und dann wieder zurückgebracht. Wir wurden alle verrückt. Vor allem Maurice, mein Mann. Ich glaube, sie hat ihn an die Grenzen seiner männlichen Geduld gebracht. Sie hat es irgendwann auf die Spitze getrieben, hat ihn noch einmal geholt, ist zurückgekommen und hat Geld verlangt, angeblich, um ihn ernähren zu können, hat sich dann ins Nachtleben gestürzt und ihn vergessen. Irgendwann ist das Faß übergelaufen, sie kam angetänzelt, als wenn nichts wäre, und er hat sie mit der Flinte empfangen. ›Ich will dich nicht mehr sehen‹, hat er zu ihr gesagt, ›du bist eine Hure. Du machst uns Schande, und den Kleinen hast du nicht verdient. Den kriegst du auch nicht zu sehen. Heute nicht und nie mehr. Los, verschwinde. Laß uns in Frieden.‹ Camille, es war mein Töchterchen. Ein Mädchen, auf das ich über zehn Jahre lang Tag für Tag gewartet hatte. Ein Mädchen, das ich abgöttisch geliebt hatte. Geliebt. Was hatte ich ihr Mündchen mit Küssen bedeckt. Ich hatte sie so oft abgeknutscht, wie es nur ging. Ein Kind, das alles bekommen hat. Alles! Die schönsten Kleider. Ferien am Meer, in den Bergen, die besten Schulen. Alles Gute in uns war

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