Zusammen ist man weniger allein
sprang?«
»Er war ein eleganter Mann, er ist gefallen. Er war Versicherungsangestellter und wegen irgendwelcher Entlüftungsschächte oder weiß der Kuckuck was auf dem Dach eines Turms unterwegs, hat seine Akte aufgeschlagen und nicht darauf geachtet, wohin er die Füße setzt …«
»Verrückt, diese Geschichte. Wie denkst du darüber?«
»Ich denke gar nichts. Dann kam die Beerdigung, und meine Mutter hat sich ständig umgedreht, um festzustellen, ob die andere Frau hinten in der Kapelle sitzt … Dann hat sie den Jaguar verkauft, und ich habe aufgehört zu reden.«
»Für wie lange?«
»Monate.«
»Und dann? Kann ich die Decke etwas runterziehen, ich ersticke gleich.«
»Ich bin auch erstickt. Aus mir wurde ein undankbares, einsames junges Mädchen, ich hatte die Nummer des Krankenhauses im Telefon gespeichert, aber ich habe sie nicht mehr gebraucht. Sie hatte sich beruhigt. Sie war jetzt nicht mehr selbstmordgefährdet, sondern depressiv. Ein Fortschritt. So war es ruhiger. Ein Toter reichte ihr wohl. Dann hatte ich nur noch eins im Kopf: abhauen. Mit siebzehn bin ich zum ersten Mal ausgebüxt und bei einer Freundin untergeschlüpft. Eines Abends, rums, standen meine Mutter und die Bullen vor der Tür. Dabei wußte sie genau, wo ich war, dieses Weib. Das war kraß, wie man heute sagen würde. Wir saßen gerade beim Abendessen, meine Freundin, ihre Eltern und ich, und unterhielten uns, soweit ich weiß, über den Algerienkrieg. Dann klopf, klopf die Bullen. Mir war das superpeinlich gegenüber diesen Leuten, aber nun gut, ich wollte keine Scherereien machen, also bin ich mitgegangen … Am 17. Februar bin ich achtzehn geworden, um eine Minute nach Mitternacht habe ich mich verdrückt und die Tür ganz leise hinter mir zugezogen. Ich habe mein Abi gemacht und dann an der Kunsthochschule angefangen. Als vierte von siebzig Zugelassenen. Nach den Opern meiner Kindheit hatte ich eine phantastische Mappe zusammengestellt. Ich hatte geschuftet wie ein Tier und bekam die Glückwünsche der Jury. Damals hatte ich keinen Kontakt mehr zu meiner Mutter und habe mich irrsinnig abgerackert, weil das Leben in Paris zu teuer war. Ich wohnte mal hier, mal dort und habe viele Stunden geschwänzt. Ich habe die Theorie geschwänzt und bin ins Atelier gegangen, und dann hab ich Scheiße gebaut … Auf der einen Seite habe ich mich gelangweilt, habe das Spiel nicht mitgespielt: Ich habe mich nicht ernst genommen und wurde folglich auch nicht ernst genommen. Ich war keine echte Künstlerin, ich war eine gute Handwerkerin, der man eher die Place du Tertre auf dem Montmartre empfiehlt, um Monet und die kleinen Tänzerinnen hinzuschmieren … Und außerdem … eh … hab ich nichts begriffen. Ich habe lieber gemalt, als mir das Geblubber der Profs anzuhören, ich habe Porträts von ihnen gemacht, und ihre Vorstellung von bildender Kunst, von Happenings und Installationen hat mich angeödet. Ich habe schnell gemerkt, daß ich mich im Jahrhundert geirrt hatte. Ich hätte gern im 16. oder 17. Jahrhundert gelebt und wäre im Atelier eines großen Meisters in die Lehre gegangen … Hätte seine Grundierungen vorbereitet, seine Pinsel gereinigt und für ihn die Farben angerieben … Vielleicht war ich nicht reif genug? Oder hatte kein Selbstbewußtsein? Oder war schlicht nicht besessen genug? Ich weiß es nicht … Auf der anderen Seite habe ich eine Bekanntschaft gemacht, die mir nicht gutgetan hat. Eine simple Geschichte: Junge Schnepfe mit ihren Pastelldöschen und schön gefalteten Läppchen verliebt sich in das verkannte Genie. Den Verstoßenen, den Prinz mit dem Kopf in den Wolken, den Trauernden, den Undurchsichtigen, den Untröstlichen … Das volle Klischee: Langhaarig, gequält, genial, leidend, lechzend … Argentinischer Vater, ungarische Mutter, explosive Mischung, hochgebildet, wohnte in einem besetzten Haus und hatte nur auf sie gewartet: ein verrücktes Huhn, das ihn bekochte, während er unter schrecklichen Qualen schöpferisch tätig war … Das habe ich richtig gut hingekriegt. Ich bin zum Markt von Saint-Pierre gegangen, habe meterlange Stoffbahnen an die Wände geheftet, um unser ›Kämmerlein‹ schön ›schmuck‹ zu gestalten, und habe mir Arbeit gesucht, um den Herd am Brennen zu halten … Wobei, den Herd … eh … den kleinen Gaskocher eher … Ich habe das Studium sausen lassen und mich im Schneidersitz hingesetzt, um darüber nachzudenken, was ich mal werden könnte … Und das
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