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Zusammen ist man weniger allein

Zusammen ist man weniger allein

Titel: Zusammen ist man weniger allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Gavalda
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Erschießungskommandos ein »Heer von Totengräbern« an die Seite. Als weiterhin Gefangene in die Stadt strömten, erfand er die Methode des Ertränkens.
    Brigadegeneral Westermann seinerseits schreibt: »Es gibt keine Vendée mehr, republikanische Bürger. Sie ist tot, unter unseren freien Säbeln mit all ihren Frauen und Kindern gestorben. Ich habe sie in den Sümpfen und den Wäldern von Savenay begraben. Ihren Befehlen folgend habe ich die Kinder unter den Pferdehufen zertrampeln und die Frauen massakrieren lassen, sie werden keine weiteren Schurken mehr gebären. Mir ist kein Gefangener entwischt.«
     
    Und es gab nichts anderes zu zeichnen als einen Schatten auf seinem konzentrierten Gesicht.
     
    »Zeichnen Sie oder lauschen Sie?«
    »Ich lausche Ihnen beim Zeichnen.«
    »Dieser Westermann hier, dieses Scheusal, der seinem neuen süßen Vaterland mit so viel Eifer gedient hat, tja, stellen Sie sich vor, er wurde einige Monate später mit Danton gefangengenommen und mit ihm enthauptet.«
    »Warum?«
    »Angeklagt der Feigheit. Er war zu lau …«
     
    Dann wiederum bat er um Erlaubnis, sich auf den Lehnstuhl am Fußende setzen zu dürfen, und beide lasen still für sich.
    »Philibert?«
    »Mmm.«
    »Die Postkarten?«
    »Ja.«
    »Geht das noch lange?«
    »Pardon?«
    »Warum machen Sie hieraus nicht Ihren Beruf? Warum versuchen Sie nicht, Historiker oder Lehrer zu werden? Es stünde Ihnen dann zu, sich während der Arbeitszeit in all diese Bücher zu versenken, Sie würden sogar dafür bezahlt!«
    Er legte sein Buch auf die abgewetzte Cordhose über seinen knöchernen Knien und setzte die Brille ab, um sich die Augen zu reiben:
    »Ich habe es versucht. Ich habe ein Staatsexamen in Geschichte und habe dreimal an der Aufnahmeprüfung für die École des Chartes teilgenommen, aber ich bin jedesmal durchgefallen.«
    »Waren Sie nicht gut genug?«
    »Doch, doch! Das heißt«, er errötete, »das heißt, ich glaube schon. Ich glaube es in aller Bescheidenheit, aber ich … Ich habe noch nie ein Examen bestanden. Ich habe zuviel Angst. Ich leide jedesmal an Schlafmangel, verliere das Augenlicht, die Haare, sogar die Zähne! Und mein ganzes Wissen. Ich lese die Aufgaben, ich weiß die Antworten, aber ich bin außerstande, eine Zeile zu schreiben. Ich sitze wie versteinert vor meinem Blatt.«
    »Aber Sie haben doch Ihr Abitur? Und Ihr Staatsexamen?«
    »Ja, aber zu welchem Preis. Und niemals beim ersten Anlauf. Und dabei war es ziemlich leicht. Mein Staatsexamen habe ich erhalten, ohne je einen Fuß in die Sorbonne gesetzt zu haben, es sei denn, um die Vorlesungen der großen Professoren zu hören, die ich bewundert habe und die mit meinem Studienplan nichts zu tun hatten.«
    »Wie alt sind Sie?«
    »Sechsunddreißig.«
    »Aber mit einem Staatsexamen hätten Sie damals doch unterrichten können, oder?«
    »Können Sie sich vorstellen, wie ich vor dreißig Kindern stehe?«
    »Ja.«
    »Nein. Allein die Vorstellung, mich an eine Zuhörerschaft zu wenden, und sei sie noch so klein, läßt mich in kalten Schweiß ausbrechen. Ich … Ich habe Probleme mit der … der Gemeinschaft, glaube ich.«
    »Aber in der Schule? Als Sie klein waren?«
    »Ich bin erst ab der fünften Klasse zur Schule gegangen. Noch dazu in ein Internat. Es war ein schreckliches Jahr. Das schlimmste in meinem ganzen Leben. Als hätte man mich in ein tiefes Becken geworfen, ohne daß ich schwimmen kann.«
    »Und dann?«
    »Nichts dann. Ich kann noch immer nicht schwimmen.«
    »Im wörtlichen Sinne oder im übertragenen?«
    »Beides, Herr General.«
    »Man hat Ihnen nie das Schwimmen beigebracht?«
    »Nein. Was soll ich damit?«
    »Eh … schwimmen.«
    »Kulturell gesehen entspringen wir eher einer Generation von Infanteristen und Artilleristen, wissen Sie?«
    »Was faseln Sie da? Ich rede nicht von einer Schlacht! Ich rede vom Meer! Und überhaupt, warum sind Sie eigentlich nicht früher in die Schule gegangen?«
    »Meine Mutter hat uns unterrichtet.«
    »Wie bei Ludwig dem Heiligen?«
    »Genau.«
    »Wie hieß sie noch mal?«
    »Bianca von Kastilien.«
    »Ach ja. Und warum? Haben Sie so weit außerhalb gewohnt?«
    »In unserem Nachbardorf gab es durchaus eine staatliche Schule, aber dort bin ich nur ein paar Tage geblieben.«
    »Warum?«
    »Weil sie staatlich war, ganz einfach.«
    »Aha! Die alte Geschichte von den Blauen, richtig?«
    »Richtig.«
    »Aber das war vor mehr als zwei Jahrhunderten! Einiges hat sich seitdem

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