Zusammen ist man weniger allein
Fuß nach Hause zu gehen, und schlug den falschen Weg ein, ohne es zu merken. Anstatt nach links abzubiegen und den Boulevard Montparnasse hinunterzugehen, um so zur Militärakademie zu gelangen, ging sie geradeaus und fand sich plötzlich in der Rue de Rennes wieder. Es lag an den Läden, der Weihnachtsbeleuchtung, dem regen Treiben.
Sie war wie ein Insekt, vom Licht und dem heißen Blut der Menge angezogen.
Sie wäre gern wie sie, eine von ihnen, in Eile, aufgeregt, geschäftig. Sie würde gern in die Geschäfte gehen und Geld ausgeben, um Menschen zu beschenken, die sie liebte. Schon verlangsamte sie ihren Schritt: Wen liebte sie eigentlich? He, nun mal langsam, sagte sie sich und stellte ihren Jackenkragen auf, fang jetzt bitte nicht wieder so an, du hast Mathilde und Pierre und Philibert und deine Feudelkolleginnen. Hier in diesem Juwelierladen würdest du bestimmt irgendwelchen Flitterkram für Mamadou finden, die sich gern herausputzt. Und zum ersten Mal seit langem tat sie, was alle taten, und auch zur gleichen Zeit wie alle anderen: Sie lief durch die Gegend und rechnete ihr dreizehntes Monatsgehalt durch. Zum ersten Mal seit langem dachte sie nicht an den nächsten Tag. Und das war kein Spruch. Es ging ihr sehr wohl um den nächsten Tag. Um morgen.
Zum ersten Mal seit langem kam es ihr vor, als sei der nächste Tag – zu bewältigen. Ja, genau das: zu bewältigen. Sie hatte einen Ort gefunden, an dem sie gerne lebte. Einen seltsamen Ort, ausgefallen wie die Leute, die darin wohnten. Sie umklammerte ihren Schlüssel in der Tasche und dachte an die letzten Wochen zurück. Sie hatte einen Außerirdischen kennengelernt. Ein großzügiges, weltfremdes Wesen, das tausend Meilen über den Wolken schwebte und daraus keinerlei Selbstgefälligkeit zu beziehen schien. Und dann war da noch der andere Spinner. Okay, mit ihm war es komplizierter. Von seinen Motorrädern und seinen Kochtöpfen abgesehen, konnte man mit ihm nicht viel anfangen, aber wenigstens hatte ihn ihr Skizzenheft ergriffen, wobei … ergriffen war doch etwas zu dick aufgetragen … sagen wir eher angesprochen. Es war komplizierter und könnte doch einfacher sein: Die Gebrauchsanweisung erschien kurz und knapp.
Ja, sie hatte schon eine ganze Strecke geschafft, überlegte sie und trottete hinter den Schaufensterbummlern her.
Letztes Jahr um diese Zeit war sie in einem derart erbärmlichen Zustand gewesen, daß sie den Jungs von der Ambulanz, die sie aufgelesen hatten, nicht einmal ihren Namen sagen konnte, und im Jahr davor hatte sie so viel gearbeitet, da hatte sie gar nicht gemerkt, daß Weihnachten war, und ihr »Wohltäter« hatte sich denn auch gehütet, sie daran zu erinnern, damit sie ja nicht aus dem Takt käme. Na also, dann konnte sie es jetzt ja wohl sagen, oder? Konnte die wenigen Worte aussprechen, die ihr noch vor gar nicht allzu langer Zeit im Hals steckengeblieben wären: Es ging ihr gut, sie fühlte sich gut, und das Leben war schön. Uff, es war raus. Aber jetzt nicht rot werden, du dumme Nuß. Und dich nicht umdrehen. Kein Mensch hat gehört, was für einen Unsinn du da von dir gegeben hast, sei unbesorgt.
Sie hatte Hunger. Sie ging in eine Bäckerei und kaufte ein paar Windbeutel. Vollkommene, leichte, süße Teilchen. Sie leckte sich lange die Finger ab, bevor sie sich in einen neuen Laden traute, um für alle eine Kleinigkeit zu besorgen. Parfum für Mathilde, Schmuck für die Mädels, ein Paar Handschuhe für Philibert, Zigarren für Pierre. Konnte man überhaupt konventionellere Geschenke kaufen? Nein. Es waren die idiotischsten Weihnachtsgeschenke der Welt, und sie waren perfekt.
Sie beschloß ihren Einkaufsbummel nahe der Place Saint-Sulpice und ging in eine Buchhandlung. Auch das war seit langem das erste Mal. In derlei Läden wagte sie sich nicht mehr hinein. Schwer zu erklären, aber es tat zu weh, es … es war … Nein, so konnte sie das nicht sagen. Diese Niedergeschlagenheit, diese Feigheit, dieses Risiko, das sie nicht mehr auf sich nehmen wollte. Eine Buchhandlung zu betreten, ins Kino zu gehen, Ausstellungen zu besuchen oder einen Blick in die Schaufensterauslagen der Kunstgalerien zu werfen bedeutete, den Finger auf ihre Mittelmäßigkeit zu legen, ihren Kleinmut, und sich daran zu erinnern, daß sie eines Tages voller Verzweiflung das Handtuch geworfen und seitdem nicht wieder aufgehoben hatte.
Welchen dieser Orte, die ihre Legitimation aus der Sensibilität einzelner bezogen, sie
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