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Zusammen ist man weniger allein

Zusammen ist man weniger allein

Titel: Zusammen ist man weniger allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Gavalda
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richtige Methode?
     
    Als sie gegen Ende auf diesen Abschnitt stieß, klappte sie das Buch zuversichtlich wieder zu:
     
    Das ist nicht weiter schwierig, wirklich. Ich gehe herum, den Notizblock in der Hand, und die Leute legen ihr Innerstes bloß. Sobald ich vor ihren Türen auftauche, erzählen sie mir ihre Lebensgeschichte, berichten von ihren kleinen Triumphen, ihrer versteckten Wut und ihren geheimen Versäumnissen. Normalerweise stecke ich den Notizblock weg, er ist ohnehin nur Show, und höre geduldig zu, bis sie alles gesagt haben. Der Rest ist einfach. Ich gehe nach Hause, setze mich an meine Hermes Jubilee und tue, was ich seit zwanzig Jahren täglich getan habe, tippe alles, und sei es noch so unbedeutend.
     
    Ein zerquetschter Kopf in der Kindheit, eine Mutter, die geistig weggetreten ist, ein kleines Notizheft tief in der Hosentasche.
    Was für eine Phantasie.
     
    Ein Stück weiter sah sie das neue Buch von Sempé. Sie nahm ihren Schal ab und steckte ihn zusammen mit dem Mantel zwischen die Beine, um sich ihrer Freude noch bequemer hingeben zu können. Langsam blätterte sie die Seiten um und bekam wie immer rosige Wangen. Sie mochte nichts lieber als diese kleine Welt von großen Träumern, die sichere Strichführung, die Gesichter der Figuren, die Markisen der Vorstadtbungalows, die Regenschirme der alten Frauen und die unendliche Poesie der Situationen. Wie machte er das? Woher nahm er das alles? Sie erkannte die Kerzen, die Weihrauchfässer und den großen barocken Altar ihrer bevorzugten Betschwester. Dieses Mal saß sie ganz hinten in der Kirche, hatte ein Handy in der Hand, drehte sich um und hielt eine Hand vor den Mund: »Marthe? Hier ist Suzanne. Ich bin gerade in der Sainte-Eulalie-de-la-Rédemption. Hast du irgendwas, das ich noch anbringen könnte?«
    Zuckersüß.
    Ein paar Seiten weiter drehte sich ein Herr um, als er hörte, wie sie vor sich hinlachte. Dabei war es nichts: eine dicke Frau, die sich an einen Konditor wandte, der mitten in der Arbeit steckte. Er hatte eine Bäckermütze auf dem Kopf, sah leicht frustriert aus und hatte einen charmanten Kugelbauch. Die Frau sagte: »Das Leben ist weitergegangen. Ich habe wieder geheiratet. Aber vergessen konnte ich dich nie, Roberto.« Und sie trug einen Hut in Kuchenform, eine Art Sahnetorte, die exakt so aussah wie die Torten, die der Konditor gerade zubereitete.
     
    Es war fast nichts, zwei, drei Tuschestriche, und doch sah man sie mit den Wimpern klimpern, mit nostalgischer Sehnsucht und der grausamen Nonchalance derer, die sich noch begehrt wissen. Kleine Ava Gardner vom Lande, kleine Femme fatale mit Haartönung.
    Sechs winzige Striche, mehr nicht. Wie machte er das?
     
    Camille legte das Wunderwerk wieder weg und kam zu dem Schluß, daß die Welt zweigeteilt war: in diejenigen, die Sempés Zeichnungen verstanden, und jene, die sie nicht verstanden. So naiv und rigoros sie auch scheinen mochte, sie hielt die Theorie durchaus für haltbar. Zum Beispiel kannte sie eine Person, die sich jedesmal, wenn sie in einem Paris-Match blätterte und eine dieser kleinen Szenen entdeckte, regelrecht lächerlich machte: »Ich weiß wirklich nicht, was daran witzig sein soll. Es muß mir mal jemand erklären, wann man hier lachen soll.« Sie hatte kein Glück, diese Person war ihre Mutter. Nein, sie hatte kein Glück.
     
    Als sie zu den Kassen ging, begegnete sie dem Blick von Vuillard. Auch hier war es kein Spruch: Er sah sie an. Mit zärtlichem Blick.
    Selbstporträt mit Stock und Kreissäge. Sie kannte das Bild, hatte aber noch nie eine derart große Reproduktion gesehen. Es war das Cover eines riesigen Katalogs. Dann lief zur Zeit wohl eine Ausstellung? Nur wo?
    »Im Grand Palais«, bestätigte ihr einer der Verkäufer.
    »Ja?«
     
    Eine seltsame Fügung. Sie hatte in den letzten Wochen ununterbrochen an ihn gedacht. Ihr Zimmer mit den überladenen Wandbehängen, der Stola auf dem Kanapee, den bestickten Kissen, den Teppichen, die sich ineinander verfingen, und dem gedämpften Licht der Lampen. Mehr als einmal hatte sie das Gefühl gehabt, sich mitten in einem Gemälde von Vuillard zu befinden. Dasselbe Gefühl von warmem Bauch, von Kokon, zeitlos, beruhigend, erstickend, aber auch erdrückend.
    Sie blätterte noch ein wenig in dem Ansichtsexemplar und wurde von grenzenloser Bewunderitis gepackt. Wie schön es war. Wie schön. Diese Frau von hinten, die eine Tür aufmachte. Ihre rosa Bluse, ihr langes schwarzes Etuikleid und der perfekte

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