Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
auch die darauf verwendete Zeit wert sein sollte. Bei Versammlungen oder Sitzungen hängt alles von deren Strukturierung ab. Wären sie wie die Werkstatt der Geigenbauer strukturiert, gelangte man dort durch körperliche Gesten zu einem Konsens. Wären sie wie ein Labor strukturiert, käme man durch ein offenes Vorgehen zu einem Ergebnis, wobei man zwischen der Skylla eines festen Arbeitsplans und der Charybdis eines ziellosen Umherschweifens hindurchsteuern müsste. Eine interessante Sitzung würde wie bei der Reparaturform des Umbaus die Leiden und Mühen anerkennen, welche die Menschen an den Verhandlungstisch geführt haben, und sie würde die Illusion vermeiden, die Dinge ein für alle Mal regeln zu können. In allen Versammlungen oder Sitzungen dieser Art würden die Teilnehmer auf dem üblichen Wege der Ausbildung von Fertigkeiten Rituale entwickeln, die es ihnen ermöglichen, besser und ausführlicher miteinander zu reden.
Das klingt gut. Aber ist es nicht eine Illusion? Wir möchten wissen, ob und wie es in der Praxis Realität werden kann. Dazu müssen wir uns mit einem scheinbar langweiligen Gegenstand befassen.
Formelle und informelle Treffen
In einer Studie über »die Entwicklung des modernen Sitzungsverhaltens« ist Wilbert van Vree der Geschichte der Verfahren nachgegangen, die Sitzungen und Versammlungen heute strukturieren – Verfahrensregeln bezüglich der Tagesordnung, der Wortmeldungen und der Erstellung von Sitzungsprotokollen. 14 Hier geht es um formelle Sitzungen, die Partizipation regulieren und informellen Austausch erschweren. Die geisttötenden Verfahrensregeln, die van Vree aufzählt, sind uns so vertraut, dass wir meinen, es hätte sie immer schon gegeben, doch das trifft nicht zu, zumindest nicht für das Geschäftsleben. Im Mittelalter ging es bei geschäftlichen Verhandlungen oft recht wild zu, bei Vertragsverhandlungen endete der Austausch von Worten leicht im Austausch von Schlägen. Das System der Zünfte und Gilden sorgte für eine gewisse Ordnung, indem es die Hierarchie in den Vordergrund rückte, denn Höhergestellte sprachen stets zuerst, und bei den Meistern ergab sich die Reihenfolge aus dem Alter. Bei formellen Zusammenkünften bestimmte der Rang, wann jemand reden durfte. Im 16. Jahrhundert entwickelte die europäische Geschäftskultur allerdings eine alternative Praxis.
Unter anderem ging diese Veränderung auf den Buchdruck zurück. In einer Zeit, als gedruckte Texte – formale Verträge, veröffentlichte, nach den Grundsätzen der doppelten Buchführung erstellte Bilanzen und dergleichen – das Geschäftsleben zu prägen begannen, wurde es notwendig, in Massenproduktion hergestellte Dokumente in direkten Gesprächen und Diskussionen zu interpretieren. Solche Diskussionen schwächten die Bedeutung der am Alter orientierten Rangordnung. Ein Älterer verstand die unpersönlichen gedruckten Dokumente nicht notwendig besser als ein aufgeweckter junger Assistent, der die Texte mindestens ebenso gut lesen und Zahlen berechnen konnte. Die Interpretation gedruckter Dokumente trug dazu bei, die in der Rangordnung enthaltene Autorität ins Wanken zu bringen. Die Zahlen in diesen Dokumenten waren freilich kein Ersatz für persönliche Autorität bei der Durchführung geschäftlicher Treffen.
Peter Apians – auf Holbeins Gemälde abgebildete – Newe und wolgegründete underweisung aller Kauffmanns Rechnung forderte den Leser auf, über die Buchführungstechniken nachzudenken. Damals wie heute suchten die Menschen nach der Gewissheit, dass Dinge, die man durch eine Zahl darstellen konnte, als sichere Tatsache gelten konnten. Apian, einer der Ersten, der die Buchführung methodisch erfasste, wusste es besser: Zahlen sind Darstellungen, die der Diskussion bedürfen. Die Historikerin Mary Poovey behauptet sogar, der Aufstieg der doppelten Buchführung und die Entwicklung der Literaturkritik in der frühen Neuzeit seien miteinander verbunden gewesen, da Zahlen und Worte gleichermaßen der Kritik zu bedürfen schienen. 15 Daher begann das streng formelle Geschäftstreffen sich als kontraproduktiv zu erweisen.
Die in ihrem Ablauf offenere Sitzung resultierte auch aus neuen Formen von Macht. Wegen der Ausweitung des Kolonialhandels im 16. und 17. Jahrhundert wurde das europäische Geschäftsleben immer komplexer, und diese Komplexität erhöhte den Bedarf an geschäftlichen Treffen. So besaß die britische Ostindiengesellschaft in ihren Anfängen nur eine rudimentäre Struktur
Weitere Kostenlose Bücher