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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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nicht signierte Stück Papier solle man sinngemäß schreiben: »Falls Sie sich in der Lage sehen, … vorzuschlagen, wäre ich möglicherweise bereit, es meiner Regierung zu unterbreiten.« Der Diplomat tut so, als reagierte er auf eine Position der Gegenpartei, statt selbst eine eigene Position zu formulieren. 18 Nehmen wir einmal an, der Diplomat verhandelte für die siegreiche Seite über einen Kapitulationsvertrag. Hier könnte das Stück Papier der besiegten Seite helfen, das Gesicht zu wahren, so dass die Verhandlungen schneller vorankommen. Der große Diplomat Talleyrand diente Napoleon genau auf diese Weise. Das Ritual des bout de papier erzeugt einen Raum der Hochachtung aus einer Position der Stärke. Es ist eine Übung in der Anwendung minimaler Kraft.
    Die démarche ist in gewisser Weise eine Erweiterung des bout de papier . Dabei handelt es sich um ein Dokument, das ein paar Ideen und Gesprächsgegenstände in Umlauf bringt, ohne dass ihre Verfasser ausdrücklich erklärten, sie dächten oder glaubten tatsächlich, was in dem Dokument steht. In der amerikanischen Diplomatie bezeichnet man diese diplomatische Praxis heute als front-channel cable . 19 Die démarche kann zu einer subtilen Form von Beteiligung einladen. Statt klar zu sagen, was man will, bleibt der Status der angesprochenen Punkte oder des Dokuments – des »es« im Jargon der Werkstatt – im Ungewissen, so dass alle Parteien sich gleichermaßen an der Diskussion beteiligen können. Ich gebe ein persönliches Beispiel. Als ich für die UNESCO, die für Bildung und Kultur zuständige Organisation der Vereinten Nationen, arbeitete, kursierten fast alle Diskussionen über die Aufnahme von Monumenten in die Liste des Weltkulturerbes in Gestalt solcher démarches . Die Diplomaten übernahmen für keine der Empfehlungen die persönliche Urheberschaft, damit jeder frei und unpersönlich darüber urteilen konnte. Das Ritual der démarche unterscheidet sich vom bout de papier dadurch, dass es keine Hochachtung demonstriert, sondern konkretes Handeln vermeidet, und eignet sich daher für Schwache ebenso wie für Starke.
    Diese diplomatischen Praktiken sind Alternativen zu einer Beschwichtigung, die der anderen Seite auf halbem Wege entgegenkommt, denn mit ihnen kann man sehr entschiedene Positionen auf den Tisch legen, ohne sie mit ebenso entschiedenen Erklärungen zu verbinden. Indem die Parteien einen Schritt zurücktreten, können sie auf die Annahme oder Ablehnung einer anderen Sicht hinarbeiten, ohne sich dabei kompromittieren zu müssen. Der Austausch bewegt sich insofern in einem Grenzbereich, als er Mehrdeutigkeit produziert, doch es wäre falsch, dieser Art von Diplomatie den Vorwurf zu machen, sie wäre ineffektiv. Bout de papier und démarche versuchen beide, das Treffen zwischen dem Starken und dem Schwachen zu einem Win-Win -Austausch zu machen. Im alltäglichen Leben entsprechen die beiden Praktiken der Vorliebe für den Konjunktiv.
    Das diplomatische Protokoll ist nicht ganz so subtil wie bout de papier oder démarche , lässt sich aber gleichfalls so strukturieren, dass die Diplomatie sich in einem Grenzbereich zu bewegen vermag. Im 17. Jahrhundert erklärte der englische Diplomat William Temple: »Zeremonien sind dazu da, das Geschäft zu erleichtern und nicht zu behindern.« 20 Dabei meinte er das zeremonielle Protokoll der Sitzordnung. Bei einem förmlichen Essen setzt man den Ehrengast stets neben den Gastgeber oder dessen Frau. Dieses Protokoll ist in der Tat formal und rigide. Für scheinbar zwanglosere Begegnungen gibt es ein weniger eindeutiges Protokoll.
    Diplomatische Empfänge und Cocktailpartys bieten Gelegenheit zu einem endlosen Austausch nicht umstrittener Beobachtungen über Sport oder Haustiere. In den Strom dieser Nichtigkeiten flicht der Diplomat ganz »nebenher« substanziellere Äußerungen über die Pläne oder das Personal einer Regierung ein, denn er weiß, dass man dieses Gespräch anschließend sorgfältig sezieren wird, falls man es nicht sogar heimlich aufzeichnet. Er kann sicher sein, dass man den nebenher abgegebenen Kommentar herausfischen und darauf reagieren wird. Auf Seiten des Sprechenden besteht die diplomatische Kunst darin, die Botschaft möglichst unauffällig zu vermitteln; auf Seiten des Hörenden besteht sie darin, sie scheinbar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Nach Auskunft von Berufsdiplomaten ist es sehr schwer, das Ritual der Beiläufigkeit vollendet zu beherrschen, handelt es sich doch

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