Zwei an Einem Tag
geschlossen hatten, machte er sich für die Arbeit fertig. Dank dem absurden Streit würde er zu spät kommen, aber die Geschäfte im Belleville Café liefen mittlerweile recht reibungslos. Er hatte eine scharfsinnige, zuverlässige Geschäftsführerin namens Maddy eingestellt, mit der er eine gute Geschäftsbeziehung pflegte und hin und wieder ein bisschen flirtete, und musste deshalb morgens nicht mehr aufschließen. Emma begleitete ihn nach unten, und gemeinsam gingen sie in den düsteren, unbestimmten Tag hinaus.
»Und wo ist dieses Haus jetzt?«
»In Kilburn. Ich schick dir die Adresse. Sieht hübsch aus. Auf dem Foto.«
»Auf den Fotos sehen sie alle hübsch aus«, murmelte sie und hörte, wie trotzig und übellaunig ihre Stimme klang. Dexter ignorierte die Bemerkung, und es dauerte ein Weilchen, bevor sie sich in der Lage fühlte, ihm die Arme um die Taille zu schlingen und ihn an sich zu ziehen. »Wir sind heute nicht sehr gut drauf, was? Ich zumindest nicht. Tut mit leid.«
»Schon okay. Wir bleiben heute zu Hause, du und ich. Ich koche das Abendessen, oder wir gehen aus. Ins Kino oder so.« Er schmiegte das Gesicht an ihr Haar. »Ich liebe dich – und wir kriegen das schon hin!«
Stumm stand Emma an der Türschwelle. Das Vernünftigste wäre, ihm zu sagen, dass sie ihn auch liebte, aber sie zog es vor, noch ein bisschen Trübsal zu blasen. Sie beschloss, bis zum Mittagessen zu schmollen und es abends wiedergutzumachen. Wenn es aufklarte, konnten sie sich auf den Primrose Hill setzen wie früher. Das Wichtigste ist, dass er da ist und alles wieder gut sein wird.
»Du solltest gehen«, murmelte sie an seine Schulter, »du kommst noch zu spät zu Maddy .«
»Hör auf.«
Grinsend sah sie zu ihm auf. »Heute Abend habe ich bessere Laune.«
»Wir tun irgendwas, was Spaß macht.«
»Spaß.«
»Wir haben doch noch Spaß, oder?«
»Natürlich«, sagte sie und küsste ihn zum Abschied.
Und Spaß hatten sie wirklich, allerdings auf andere Art als früher. Sehnsucht, Seelenqualen und Leidenschaft waren ruhigeren Gefühlen wie Freude, Zufriedenheit und gelegentlicher Gereiztheit gewichen, und alles in allem war das gut so; es hatte zwar schon euphorischere Momente in ihrem Leben gegeben, aber noch nie eine Zeit, in der alles so beständig war.
Manchmal fehlte ihr die Intensität, nicht nur ihrer Beziehung, sondern der Anfangszeit ihrer Freundschaft. Sie erinnerte sich, bis spät in die Nacht hinein zehnseitige Briefe geschrieben zu haben; verrückte Ergüsse voller Leidenschaft, Gefühlsduselei, kaum verhüllter Andeutungen, Ausrufezeichen und Unterstreichungen. Zeitweilig hatte sie ihm sogar täglich Postkarten geschrieben, zusätzlich zu den stundenlangen Telefongesprächen vorm Schlafengehen. Die Zeit in der Wohnung in Dalston, als sie bis Sonnenaufgang aufgeblieben waren, geredet und Platten gehört hatten, oder damals im Haus seiner Eltern, als sie am Neujahrstag im Fluss geschwommen waren, oder der Nachmittag, als sie in der verborgenen Bar in Chinatown Absinth getrunken hatten; all diese Momente und noch mehr waren in Notizbüchern und Briefen aufgeschrieben und auf zahllosen Fotos, stapelweise, haufenweise Fotos festgehalten worden. Es hatte eine Zeit gegeben, etwa Anfang der 90er, als sie an keinem Fotoautomaten vorbeigehen konnten, ohne sich hineinzuquetschen, weil die ständige Anwesenheit des anderen noch nicht selbstverständlich gewesen war.
Aber jemanden nur zu betrachten, nur dazusitzen, sich anzuschauen und zu reden, bis die Sonne aufgeht? Wer hatte heute noch die Zeit, den Willen oder die Energie, die ganze Nacht aufzubleiben und zu reden? Worüber auch? Immobilienpreise? Früher hatte sie sich nach mitternächtlichen Anrufen gesehnt; wenn heute spät in der Nacht das Telefon klingelte, dann weil es einen Unfall gegeben hatte. Und brauchten sie wirklich noch mehr Fotos, wo sie doch das Gesicht des anderen in-und auswendig kannten, Schuhkartons voll davon hatten, ein Archiv über fast zwanzig Jahre? Wer schreibt heutzutage noch lange Briefe, und was bedeutet einem noch so viel?
Sie fragte sich manchmal, was sie wohl als 22-Jährige über die heutige Emma Mayhew gedacht hätte. Würde sie sich für ichbezogen halten? Zu kompromissbereit? Eine verräterische Spießerin, die Geschmack am Eigenheimbesitz, an Auslandsreisen, Pariser Mode und teuren Frisuren gefunden hatte? Würde sie sie konventionell finden, mit dem neuen Nachnamen und der Hoffnung auf ein Familienleben? Vielleicht, aber
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