Zwei an Einem Tag
zwei, aß zu Mittag und ging dann schwimmen. Im Juli fuhr sie manchmal zum Schwimmteich für Frauen in den Hampstead Heath Park, aber der Himmel sah bedrohlich dunkel und wolkenverhangen aus, deshalb trotzte sie tapfer den Teenagern im Hallenbad. Zwanzig Minuten lang paddelte sie unglücklich zwischen ihnen umher, während diese wie wild Bauchklatscher machten, sich gegenseitig untertauchten und flirteten, berauscht von der Freiheit am Schuljahresende. Danach saß sie in der Umkleidekabine, hörte sich Dexters Nachricht an und lächelte. Sie merkte sich die Adresse des Hauses und rief ihn zurück.
»Hi. Ich bins. Ich wollte nur sagen, ich fahre jetzt los, und ich kanns kaum erwarten, die Frühstückstheke zu sehen. Vielleicht verspäte ich mich fünf Minuten. Danke noch mal für deine Nachricht, ich wollte noch sagen … dass ich heute so bissig war, tut mir leid und das mit dem blöden Streit auch. Es hatte nichts mit dir zu tun. Bin bloß im Moment etwas gereizt. Die Hauptsache ist, dass ich dich sehr liebe. So. Da hast dus. Du Glückspilz! Ich glaube, das ist alles. Tschüss, mein Schatz. Tschüss.«
Draußen vor dem Schwimmbad hatte der Himmel sich noch mehr verfinstert, die Schleusen geöffnet, und warme, dicke, graue Regentropfen fielen. Sie verfluchte das Wetter und den nassen Fahrradsattel, machte sich auf nach Nordlondon in Richtung Kilburn und suchte sich einen improvisierten Weg durch das Labyrinth von Wohngebieten zur Lexington Road.
Es regnete jetzt heftiger, braune, ölige Großstadtregentropfen, und Emma fuhr jetzt stehend mit gesenktem Kopf, so dass sie die Bewegung in der Seitenstraße zu ihrer Linken nur verschwommen aus dem Augenwinkel wahrnahm. Es ist weniger ein Gefühl des Durch-die-Luft-Fliegens, als dass sie hochgehoben und durch die Luft geschleudert wird, und als sie am Straßenrand landet, das Gesicht auf dem nassen Gehsteig, ist ihr erster Impuls, nach ihrem Fahrrad zu suchen, das plötzlich verschwunden ist. Sie versucht, den Kopf zu bewegen, schafft es aber nicht. Sie will den Fahrradhelm abnehmen, denn Leute starren sie an, Gesichter, die auf sie herunterschauen, und sie sieht albern aus mit dem Ding, aber die Leute, die sich über sie beugen, sehen so ängstlich aus und fragen ständig, geht es Ihnen gut, geht es Ihnen gut. Jemand weint sogar, und erst jetzt wird ihr klar, dass es ihr nicht gut geht. Regentropfen fallen ihr ins Gesicht, sie blinzelt. Nun kommt sie mit Sicherheit zu spät. Dexter wartet bestimmt schon.
Zwei Bilder sieht sie sehr deutlich vor sich.
Das erste ist ein Foto von ihr als Neunjährige im roten Badeanzug am Strand, wo, hat sie vergessen, Filey oder Scarborough vielleicht. Ihre Eltern sind bei ihr, schwingen sie in Richtung Kamera, sonnenverbrannt und lachend. Dann sieht sie Dexter vor sich, der auf den Stufen des neuen Hauses vor dem Regen Schutz sucht und ungeduldig auf die Uhr schaut; er wird sich fragen, wo ich bleibe, denkt sie. Er wird sich Sorgen machen.
Dann stirbt Emma Mayhew, und all ihre Gedanken und Gefühle sterben mit ihr.
FÜNFTER TEIL
Drei Jahrestage
Mit philosophischer Gelassenheit verzeichnete sie die Erinnerungsdaten, wie sie im Kreislauf des Jahres vorüberzogen … ihren eigenen Geburtstag und auch alle übrigen Tage, wie sie durch Vorfälle gekennzeichnet waren, die sie irgendwie berührt hatten. Plötzlich eines Nachmittags, als sie im Spiegel ihre Schönheit betrachtete, fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es noch ein anderes Datum gebe, von größerer Bedeutung für sie als jene Tage: das ihres eigenen Todes, da all diese Reize verschwunden sein würden, ein Tag, der versteckt und unsichtbar unter all den andern Tagen des Jahres lag, der kein Zeichen von sich gab und keinen Laut, wenn er alljährlich an ihr vorüberzog; und war darum doch nicht weniger unentrinnbar da. Wann?
Thomas Hardy, Tess von D’Urbervilles
KAPITEL NEUNZEHN
Der Morgen danach
Freitag, 15. Juli 1988
Rankeillor Street, Edinburgh
Als sie die Augen aufmachte, war der schlanke Junge immer noch da, saß mit dem Rücken zu ihr unsicher auf der äußersten Kante des alten Holzstuhls und zog sich so leise wie möglich die Hose an. Sie warf einen Blick auf den Radiowecker: zwanzig nach neun. Sie hatten etwa drei Stunden geschlafen, und jetzt wollte er sich davonstehlen. Sie sah zu, wie er die Hand in die Hosentasche steckte, damit das Kleingeld darin nicht klimperte, aufstand und das weiße Hemd vom Vorabend anzog. Ein letzter Blick auf den langen
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