Zwei an Einem Tag
die 22-jährige Emma Morley war auch kein Muster an Vollkommenheit gewesen: überheblich, launisch, faul, große Reden schwingend und überkritisch. Selbstmitleidig, selbstgerecht, selbstgefällig, alles, was mit »selbst« anfängt, außer selbstbewusst, die Eigenschaft, die ihr schon immer am meisten fehlte.
Nein, dies war das wahre Leben, fand sie, vielleicht war sie nicht mehr ganz so neugierig und leidenschaftlich wie früher, aber das war schließlich nicht anders zu erwarten. Es wäre unangemessen und würdelos, sich mit 38 Jahren mit der gleichen Begeisterung und Intensität in Freundschaften und Beziehungen zu stürzen wie mit 22. Sich Hals über Kopf verlieben? Gedichte schreiben, bei Popsongs flennen? Leute in Fotoautomaten zerren oder einen ganzen Tag brauchen, um eine Kassette aufzunehmen, Leute abzuschleppen, weil man Gesellschaft brauchte? Wenn man den Leuten heutzutage ein Zitat von Bob Dylan, T.S. Eliot, oder, Gott bewahre, Brecht an den Kopf warf, lächelten sie nur höflich und machten sich aus dem Staub, und wer konnte es ihnen verübeln? Mit 38 wäre es lächerlich zu erwarten, dass ein Buch oder Film das ganze Leben veränderte. Nein, jetzt hatte sich alles eingependelt und beruhigt, das Leben spielte sich vor einem beständigen Hintergrund der Behaglichkeit, Zufriedenheit und Vertrautheit ab. Es würde keine nervenaufreibenden Hochs und Tiefs mehr geben. Die Freunde, die sie jetzt hatten, würden dieselben sein wie in fünf, zehn und zwanzig Jahren. Sie erwarteten, weder beträchtlich reicher noch ärmer zu werden; sie erwarteten, noch eine Weile gesund zu bleiben. Gefangen in der Mitte: Mittelklasse, mittlere Jahre; glücklich, weil sie nicht überglücklich waren.
Endlich liebte sie jemanden und war ziemlich sicher, dass sie auch geliebt wurde. Wenn Emma manchmal auf Partys gefragt wurde, wie sie und ihr Mann sich kennengelernt hatten, sagte sie:
»Wir sind zusammen aufgewachsen.«
So gingen sie wie üblich an die Arbeit. Emma setzte sich an den Computer beim Fenster, das auf die von Bäumen gesäumte Straße hinausging, und schrieb am fünften und letzten Band der Julie-Criscoll -Reihe, in dem die fiktive Heldin paradoxerweise schwanger wurde und sich zwischen Mutterschaft und Universität entscheiden musste. Es lief nicht besonders; der Ton war zu düster und introspektiv, die Witze wollten nicht zünden. Sie wollte es endlich hinter sich bringen, hatte aber keine Ahnung, was sie als Nächstes schreiben sollte und wozu sie überhaupt fähig war; vielleicht ein Buch für Erwachsene, etwas Ernstes, sorgfältig Recherchiertes über den Spanischen Bürgerkrieg oder über die unmittelbare Zukunft im Stil von Margaret Atwood, etwas, das ihr jüngeres Ich respektiert und bewundert hätte. Das war zumindest ihre Vorstellung. Bis es so weit war, räumte sie erst mal die Wohnung auf, machte Tee, bezahlte Rechnungen, erledigte die Buntwäsche, steckte CDs zurück in Hüllen, machte noch einmal Tee, schaltete schließlich den Computer ein und versuchte ihn durch Anstarren gefügig zu machen.
Im Café flirtete Dexter kurz mit Maddy und setzte sich dann in den winzigen Lagerraum mit dem überwältigenden Geruch nach Käse, um die vierteljährliche Umsatzsteuererklärung zu machen. Aber die düstere Stimmung und die Schuldgefühle wegen des morgendlichen Ausbruchs belasteten ihn immer noch, und als er sich nicht mehr konzentrieren konnte, griff er zum Telefon. Sonst hatte Emma immer die Versöhnungsanrufe gemacht und die Wogen geglättet, aber in ihrer achtmonatigen Ehe hatten sich die Rollen vertauscht, und es war ihm jetzt unmöglich, irgendetwas zu tun, wenn er wusste, dass sie unglücklich war. Er wählte, stellte sich vor, wie sie am Schreibtisch saß, seinen Namen auf dem Handydisplay sah und es ausmachte. Das war ihm ohnehin lieber – es war leichter, sentimental zu sein, wenn niemand antwortete.
»Ich sitze hier an der Umsatzsteuererklärung und muss immer an dich denken, und ich wollte nur sagen, mach dir keine Sorgen. Ich habe den Hausbesichtigungstermin auf fünf Uhr gelegt. Ich simse dir Adresse, also, wer weiß. Wir werden sehen. Altbau, große Zimmer. Es hat anscheinend eine Frühstückstheke. Ich weiß, davon hast du immer geträumt. Damit wäre eigentlich alles gesagt. Außer, ich liebe dich, und mach dir keine Sorgen. Egal, worüber du dir Sorgen machst, lass es einfach. Das ist alles. Bis nachher um fünf. Hab dich lieb. Tschüss.«
Gemäß ihrer Tagesroutine arbeitete Emma bis
Weitere Kostenlose Bücher