Zwei an Einem Tag
Dodekanes-Inseln, Griechenland
Eines Morgens wacht man auf, und alles ist perfekt.
An diesem schönen, sonnigen St.-Swithins-Tag schipperten sie auf dem Sonnendeck einer Fähre gemächlich auf der Ägäis dahin, über sich den endlosen, blauen, von keinem Wölkchen getrübten Himmel. Seite an Seite lagen sie in Urlaubskleidung und mit neuen Sonnenbrillen in der Morgensonne und schliefen den Rausch ihrer nächtlichen Kneipentour aus. Tag zwei einer zehntägigen Insel-Hopping-Tour, und die Spielregeln waren immer noch wie in Stein gemeißelt.
Die Regeln, eine Art platonische Genfer Konvention, bestanden aus ein paar grundlegenden Verboten, die vor dem Urlaub aufgestellt worden waren, um »Komplikationen« zu vermeiden. Emma war wieder Single; eine kurze, belanglose Beziehung mit Spike, einem Fahrradmechaniker, dessen Hände ständig nach Schmiermittel rochen, war in beiderseitigem Einvernehmen in die Brüche gegangen, hatte aber trotzdem Emmas Selbstvertrauen gestärkt. Und ihr Fahrrad hatte nie besser ausgesehen.
Dexter hingegen traf sich nicht mehr mit Naomi, weil ihm das Ganze, wie er sagte, »zu ernst« geworden war, was auch immer das heißen mochte. Seither hatte er kurze Affären mit Avril, Mary, einer Sara, einer Sarah, Sandra und Yolande gehabt, bevor er bei Ingrid gelandet war, einer wilden Modestylistin, die das Modeln an den Nagel hängen musste, weil – wie sie Emma ganz ernst erzählte – ihre Brüste zu groß für den Laufsteg seien, und bei diesen Worten platzte Dexter vor Stolz.
Ingrid gehörte zu den sexuell selbstbewussten Mädchen, die ihren BH über der Kleidung tragen. Und obwohl sie sich in keiner Weise von Emma oder sonst jemandem bedroht fühlte, hielten es alle drei Parteien für das Beste, ein paar Dinge zu klären, bevor die Schwimmsachen ausgepackt und die Cocktails geschlürft wurden. Es war zwar unwahrscheinlich, dass etwas zwischen Emma und Dexter passierte, denn der Zug war schon vor ein paar Jahren abgefahren, und sie waren jetzt immun gegen die Anziehungskraft des anderen, geborgen im sicheren Hafen der Freundschaft. Trotzdem hatten sich Emma und Dexter an einem Freitagabend im Juni vor dem Pub am Hampstead Heath zusammengesetzt und Die Regeln aufgestellt.
Regel Nummer eins: Getrennte Zimmer. Was auch passierte, es würden weder Einzel-noch Doppelbetten geteilt, es würde kein betrunkenes Kuscheln und keine Umarmungen geben; schließlich waren sie keine Studenten mehr. »Mit Kuscheln kann ich eh nichts anfangen«, hatte Dexter gesagt. »Davon kriegt man nur ’n Krampf.« Emma hatte ihm beigepflichtet und hinzugefügt: »Und kein Flirten. Regel Nummer zwei.«
»Also, ich flirte nie …«, sagte Dexter und strich ihr mit dem Fuß die Innenseite des Schienbeins entlang.
»Im Ernst, nicht, dass du nach ein paar Drinks zudringlich wirst.«
»›Zudringlich‹?«
»Du weißt genau, was ich meine. Keine Annäherungsversuche.«
»Was, bei dir?«
»Bei mir oder sonst jemandem. Genau genommen ist das Regel drei. Ich will nicht wie das fünfte Rad am Wagen dabeisitzen, wenn du Lotte aus Stuttgart mit Sonnenöl einreibst.«
»Ähm, also so was wird bestimmt nicht vorkommen.«
»Wird es auch nicht. Weil es eine Regel ist.«
Regel Nummer vier, von Emma aufgestellt, war der Anti-Nacktheits-Paragraph. Kein Nacktbaden, sittsame Bekleidung und körperliche Zurückhaltung in allen Lebenslagen. Sie wollte Dexter nicht in Unterhose, unter der Dusche oder, Gott behüte, auf dem Klo sehen. Im Gegenzug schlug Dexter Regel Nummer fünf vor. Kein Scrabble. Eine wachsende Anzahl seiner Freunde spielte es neuerdings auf augenzwinkernde Art, nach dreifachem Wortwert süchtige Scrabble-Freaks, aber ihm kam es so vor, als sei das Spiel nur erfunden worden, damit er sich langweilte und sich blöd vorkam. Kein Scrabble und auch kein Boggle; schließlich war er noch nicht tot.
Heute, am zweiten Tag, war noch keine Der Regeln gebrochen worden, und sie lagen an Deck der alten, rostfleckigen Fähre, die gemächlich von Rhodos zu den kleineren Dodekanes-Inseln tuckerte. Die erste Nacht hatten sie in der Altstadt verbracht, zuckersüße Cocktails aus ausgehöhlten Ananas getrunken und konnten ob der vielen neuen Eindrücke nicht aufhören, sich anzugrinsen. Die Fähre hatte Rhodos noch im Dunkeln verlassen, und jetzt, um neun Uhr morgens, lagen sie beide ruhig da, hätschelten ihren Kater, fühlten, wie das Stampfen der Maschinen ihren Mageninhalt durchrüttelte, aßen Apfelsinen, lasen und schmorten
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