Zwei an Einem Tag
in die Korbwäschetruhe – seit jenem schicksalhaften Sommerschlussverkauf in der Tottenham Court Road gibt es Unmengen von Korbwaren in ihrem Leben –, setzt die alte Brille auf und stellt sich in aufrechter Haltung nackt vor den Spiegel. Könnte schlimmer sein, denkt sie und geht duschen.
Beim Frühstücken schaut sie aus dem Fenster. Ihre Wohnung liegt in der sechsten Etage eines roten Backsteinwohnblocks mit Blick auf einen identischen roten Backsteinwohnblock. Eigentlich mag sie Earls Court nicht besonders, es wirkt behelfsmäßig und heruntergekommen wie Londons Notunterkunft. Die Miete für eine Singlewohnung ist horrend, und vielleicht muss sie sich etwas Billigeres suchen, wenn sie zu unterrichten anfängt, aber im Moment gefällt es ihr hier, weit weg vom Loco Caliente und dem ungeschminkten Sozialrealismus des Abstellraums in Clapton. Nach sechs gemeinsamen Jahren mit Tilly Killick ist sie froh, der gräulichen Unterwäsche in der Spüle und dem angebissenen Cheddar entronnen zu sein.
Weil sie sich nicht mehr für ihre Wohnung schämt, hat sie ihren Eltern sogar einen Besuch erlaubt. Und Jim und Sue haben auf »Tahiti« übernachtet, sie selbst auf dem Sofa. Nach den drei nervenaufreibenden Tagen voll endloser Kommentare über Londons Multikultigesellschaft und den Preis einer Tasse Tee billigten ihre Eltern die neue Lebensweise ihrer Tochter zwar nicht ausdrücklich, aber wenigstens schlägt ihre Mutter nicht mehr vor, dass sie nach Leeds zurückkommen und bei den Gaswerken arbeiten soll. »Gut gemacht, Emmy«, hatte ihr Vater sie flüsternd gelobt, als sie sie nach King’s Cross zum Zug brachte, aber wofür? Vielleicht, weil sie jetzt endlich ein Erwachsenenleben führt.
Natürlich ist immer noch kein Freund in Sicht, aber das stört Emma wenig. Selten, sehr selten übermannt sie an einem verregneten Sonntagnachmittag gegen vier die Panik, wenn ihr die Einsamkeit schier die Luft abschnürt. Ein oder zwei Mal hat sie überprüft, ob das Telefon funktioniert. Manchmal malt sie sich aus, wie schön es wäre, mitten in der Nacht von einem Anruf geweckt zu werden: »Schwing dich in ein Taxi« oder »Ich muss dich sehen, wir müssen reden«. Aber in den besten Zeiten kommt sie sich vor wie eine Romanfigur von Muriel Spark – unabhängig, belesen, scharfsinnig und insgeheim romantisch. Mit 27 kann Emma Morley einen Einserabschluss in Englisch und Geschichte, ein neues Bett, eine Zweizimmerwohnung in Earls Court, jede Menge Freunde und ein Lehramtsexamen vorweisen. Wenn das Vorstellungsgespräch heute gut läuft, hat sie einen Job als Lehrerin für Englisch und Theaterpädagogik in der Tasche, Fächer, die sie mag und in denen sie sich auskennt. Sie steht an der Schwelle zu einer neuen Karriere als inspirierende Lehrerin, und endlich, endlich herrscht etwas Ordnung in ihrem Leben.
Außerdem hat Emma ein Date.
Ein richtiges, waschechtes Date. Sie wird mit einem Mann in einem Restaurant sitzen und ihm beim Essen und Reden zuschauen. Jemand will »Tahiti« entern, und heute Abend wird sich entscheiden, ob sie ihn lässt. Sie steht beim Toaster, schneidet eine Banane für die erste von sieben Obst-und Gemüseportionen des Tages und starrt auf den Kalender. Der 15. Juli 1993, ein Fragezeichen und ein Ausrufezeichen. Der Tag der Entscheidung.
Dexters Bett, ein Italienimport, gleicht einer flachen, kahlen, schwarzen Plattform, steht in der Mitte des kahlen Zimmers wie eine Bühne oder Ringkampfarena, und diese beiden Funktionen erfüllt es auch manchmal. Hellwach liegt er dort um halb zehn in einer Mischung aus Angst, Selbsthass und sexueller Frustration. Seine Nerven sind aufs Äußerste gespannt, und er hat einen scheußlichen Geschmack im Mund, als hätte er Haarspray auf der Zunge. Plötzlich springt er auf und tappt über die schwarzen Hochglanzdielen in die schwedische Küche. Im Tiefkühlfach des geräumigen, klinischen Kühlschranks findet er eine Flasche Wodka, gießt sich einen Fingerbreit ein und fügt die gleiche Menge Orangensaft hinzu. Schließlich hat er noch nicht geschlafen, deshalb ist es nicht der erste Drink des Tages, sondern der letzte der Nacht, beruhigt er sich. Außerdem ist das Tabu, tagsüber nichts zu trinken, völlig übertrieben; auf dem Kontinent macht das jeder. Der Trick ist, das Alkoholhochgefühl als Mittel gegen das Drogentief einzusetzen; man gibt sich die Kante, um nüchtern zu bleiben, ziemlich vernünftig, wenn man es recht bedenkt. Ermutigt von dieser Logik, schenkt er
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