Zwei Frauen: Roman (German Edition)
gewesen wäre, ich aber nicht auf ihn hätte hören wollen. »… und dann habe ich auch noch eine halbe Schachtel Zigaretten geraucht.«
»Wann?«
»Vor der Operation. Das haben die zwar gerochen, aber ich habe es nicht zugegeben.«
»Deshalb war die Narkose also zu schwach dosiert …«
»Weshalb?«
»Nikotin vermindert die Wirkung verschiedener Narkotika.«
»Sehen Sie!«
Reinders lächelte, fast war es schon ein richtiges Lachen. »Wollen Sie mich vor dem Ausschuss retten«, fragte er, »oder wollen Sie sich die Strafpredigt ersparen?«
»Beides!«, erwiderte ich.
»Und warum?«
»Weil …« Wieder sah er mich so seltsam an, und wieder schoss mir sämtliches überschüssige Blut in den Kopf. »… weil … es ist ja nichts passiert!«
Jan seufzte. »Das ist noch nicht sicher …«
Was er mit diesen letzten Worten meinte, sollte mir bald klar werden. Zuerst kamen »Leute, die mir ihre ausgestreckte Hand entgegenhielten und wissen wollten, wie viele Finger ich sähe. Da ich jedes Mal zur allgemeinen Zufriedenheit antwortete, hatte ich als Nächstes auf Kommando mit dem Kopf zu nicken, mit den großen Zehen zu winken oder die Zunge herauszustrecken, und da auch das ganz vorbildlich klappte, galt es schließlich, solche Fragen zu beantworten wie » Arm – Bein – Fuß – Senfglas : Welches Wort passt nicht in diese Reihe?«, oder » Fünf – Zehn – Zwanzig : fügen Sie die richtige Zahl ein!«
Zuletzt überprüfte man dann per Elektroenzephalogramm meine Hirnströme auf so genannte »spikes« und »waves«, auf Krampfwellen und Krampfzacken, und der junge Neurologe, der diese Untersuchung vornahm, war der Erste, der sich herabließ, mir zu erklären, warum dieser ganze Hokuspokus überhaupt gemacht wurde.
»Ihr Herz hat viereinhalb Minuten nicht geschlagen«, sagte er. »Deshalb könnten Sie eine Hirnschädigung davongetragen haben.«
»Was?« Ich war entsetzt.
»Auf Anhieb kann man das oft gar nicht feststellen.«
Endlich begriff ich, was Jan mir so schonend hatte beibringen wollen, und ich brauchte mindestens zehn Minuten, um diese Hiobsbotschaft seelisch zu verkraften.
Dann atmete ich tief durch und bat mein Gegenüber, diese Nachricht bitte für sich zu behalten.
»Wieso?«
»Weil das sonst jeder anführt, Herr Doktor, wenn ich in Zukunft mal nicht nach Wunsch funktioniere: Vielleicht hast du ja doch einen Dachschaden, Eva!«
Der Arzt lachte herzlich darüber, er hatte schließlich keine Ahnung, was mir in meinem jungen Leben schon so alles widerfahren war. Deshalb versuchte ich nun in den nachfolgenden anderthalb Stunden, ihn um meine Lebenserfahrungen zu bereichern, und das ließ er sich zu meinem Erstaunen sogar gefallen. Ich erzählte von meiner Kindheit, von meiner Großmutter, von Frau Gruber und von meinen Eltern, von meiner Chemotherapie, meinen Bestrahlungen, meinen diversen Operationen, und zuletzt erzählte ich sogar von meinem Herzstillstand.
»Ich habe mich großartig dabei gefühlt«, sagte ich. »Es war wundervoll und irgendwie drollig, wie die sich aufgeregt haben, weil mein Blutdruck fiel und plötzlich kein Puls mehr da war, weil da auf einmal so viel Blut war …«
Der junge Herr Doktor, der bis dahin eine beneidenswert gesunde Gesichtsfarbe gehabt hatte, wurde kreidebleich.
»Das … das wissen Sie?«, stammelte er.
»Ich habe es gehört!«, erwiderte ich.
»Gehört???«
»Ich habe alles gehört, was gesprochen wurde, ich habe ja auch alles gesehen.«
»Was?«
»Wie Sie mich auf die Erde gelegt haben! Meinen eigenen Körper habe ich gesehen, obwohl ich sicher bin, dass meine Augen geschlossen waren. Ich habe es trotzdem ganz deutlich gesehen, und dann …«
»Was war dann?«
»Wie?«
»Was dann war, Frau Martin, was??? Erzählen Sie es mir!!!«
»Ich …«
»Ja?«
Der Herr Neurologe sollte nicht der Einzige bleiben, der mich das fragte. Ohne es zu wollen, hatte ich mit meiner Offenheit ein Räderwerk in Bewegung gesetzt, mit dem ich nun kaum fertig zu werden wusste. Ich war plötzlich die interessanteste Patientin der ganzen Klinik, das Mädchen, das von den Toten erwacht war. Unentwegt scharten sich fremde Menschen um mich und stellten mir Fragen.
»Wie war das? – Was war da? – Stimmt es, dass …?«
Es war eine Last, und so dachte ich mir schließlich eine rettende Antwort aus:
»Jenseits dieses Diesseits gibt es ein Jenseits, das jenseits allen Diesseits liegt.«
Wann immer ich das von mir gab, zückten eifrige Gesellen den Bleistift, um erst
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