Zwei Geschichten von der See
Bewunderung würdig, aber für ihn allzu hoch war, gebührenden Abstand.
Jetzt erkannte er eine jener unselig erinnerten Arien am Klavier wieder und trat nur deshalb nicht den Rückzug an, weil Clotilde, in ihrer Taftrobe, mit ihrer Turmfrisur und einer Welt voller Hoffnung in der schmachtenden Stimme, ihn für einen kleinen Rundgang vor dem Abendessen erwartete. Er versuchte den Eingang zum Salon zu umgehen, vielleicht verlangte das Protokoll von ihm als Kapitän, eine Zeitlang den Pianisten zu bewundern. Mit dem Rücken zu der Ecke, in der das Klavier stand, linste er vorsichtig durch ein Fenster, um nicht einen für ihn peinlichen Blick mit dem Interpreten tauschen zu müssen. Clotilde schien nicht im Salon zu sein, jedenfalls sah er sie nicht. Wohin war sie wohl gegangen? Der Virtuose schien von neuer Begeisterung beflügelt, die Töne schwollen, wo hatte sich die Betörende nur versteckt? Er wagte einen Blick in Richtung Klavier – und sie, Clotilde, lächelte ihm zu, ohne die Hände von den Tasten, ohne den geneigten Kopf und die verzückten Augen zu heben, während ihre Frisur zum Takt mithüpfte. Sie war ja Klavierlehrerin, sie hatte es ihm bei der morgendlichen Plauderei verraten, sie hatte ihr Können verschwiegen, ihre künstlerischen Gaben, ihre Befähigung, große Musik zum Erklingen zu bringen. Er hatte sich eine schlichte Klavierlehrerin mit einem bescheidenen Pianino vorgestellt, die heiratsfähigen höheren Töchtern die Anfangsgründe des Klavierspiels beibrachte: Sie lehrte
Marchas, Sambas,
einen Foxtrott, allerhöchstens einen Walzer auf den Tasten zu zerhacken; sie traute sich selbst nicht mehr zu, als bei Hausfesten der ihr bekannten Familien, die sich keine Musikkapelle leisten konnten, gefällig zum Tanz aufzuspielen. Nun aber warf Clotilde den Kopf zur Seite, ihre kunstvollen Flechten lösten sich auf, sie griff in die Tasten. Eine Künstlerin! Er war stolz auf sie und betrat den Salon, gerade noch rechtzeitig, um in das rauschende Beifallsklatschen einfallen und die Virtuosin feiern zu können, die den Deckel zuklappte und damit das Ende ihres Konzerts zu bekunden schien.
Der Kommandant ging auf die bejubelte, bescheiden abwehrende Künstlerin zu, die das Gesicht mit ihrer Stola bedeckte, und streckte ihr die Hände entgegen:
»Wie herrlich! Welche Klangfülle, welch vollendete Wiedergabe! Welch göttliche Augenblicke!«
»Gefällt Ihnen klassische Musik?«
»Und ob sie mir gefällt … Meine Plattensammlung ist ohne Übertreibung eine der größten von Bahia, vielleicht sogar von Brasilien.«
»Und Opernmusik?«
»Ich liebe Opern. Bevor ich in den Ruhestand trat, war meine erste Frage in jedem Hafen, ob es eine Oper am Platz gebe …«
Während des ganzen Zwiegesprächs hielt er ihre Hände. Plötzlich fiel es ihr auf, sie entzog sie ihm rasch und fuhr nervös und hektisch lachend zusammen. Einen Augenblick verlor er die Fassung und wusste nicht, wo er seine Hände lassen sollte, aber schon nahm sie den Faden des Gesprächs wieder auf:
»Ich muss gestehen, nie auf einem so verstimmten Instrument gespielt zu haben.«
»Ist es so schlimm?«
»Grauenvoll, es macht überhaupt keinen Spaß, darauf zu spielen.«
»Ich werde das sofort in Ordnung bringen und in Recife einen Stimmer kommen lassen. Und nun, wie wär’s mit unserem kleinen Rundgang?«
Aber es war schon zu spät, der Gong für das Abendessen ertönte. Im Gespräch über »La Bohème« verfügte man sich in den Speisesaal. Clotilde war verrückt auf Puccini. Der Kapitän behauptete, seine Bewunderung und Begeisterung seien nicht geringer.
Nach beendeter Mahlzeit drehten sie vor dem Bingo im Salon ein paar Runden um das Promenadendeck. Sie schlenderten gemächlich dahin, sie spielte mit ihrer Stola, er zog an seiner Pfeife, sie sprachen von Rio, das sie anbetete, von Bahia, in dem es sich seiner Ansicht nach gut leben ließ, von Belém do Pará, wo es tagaus, tagein zur gleichen Stunde regnete. Dann und wann unterbrach sie ein Fahrgast, um den Kommandanten zu begrüßen und eine Auskunft zu erbitten. Man plauderte von Recife, dessen inselartige Lage sie auf der Hinfahrt entzückt hatte. Unglücklicherweise hatte sie von der Hauptstadt Pernambucos wenig sehen können, es hatte wie mit Kübeln geschüttet, und sie hatte niemanden gekannt, der die Sehenswürdigkeiten mit ihr hätte besichtigen können. Morgen würde das anders sein, sagte sie mit einem Lächeln, morgen würde ihr sicherlich der Herr Kommandant zur
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