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Zwei Geschichten von der See

Zwei Geschichten von der See

Titel: Zwei Geschichten von der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Amado
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verdanke ich dem Herrn Richter und unseren allabendlichen Unterhaltungen im Garten seines Hauses; ich schulde ihm daher Ehrerbietung und Dankbarkeit. Wenn er mit feierlicher Stimme und sprechenden Gebärden eine Unklarheit erläutert, erscheint mir in diesem Augenblick alles klar und verständlich, und kein Einwand bedrängt mich. Sobald ich ihn jedoch verlasse und ernstlich über das Thema nachdenke, schwinden Verständlichkeit und Beweiskraft, wie zum Beispiel im Falle der erwähnten Wahrheit. Wieder ist alles dunkel und verworren, ich suche mich an die Erläuterung des Hochverdienten zu erinnern und vermag es nicht. Es ist ein Kreuz. Wie kann ich aber am Wort eines so hochgebildeten Mannes, dessen Wandborde von Büchern, Kodexen und Traktaten überquellen, zweifeln? Indessen, je mehr er mir erklärt, es handle sich dabei lediglich um ein beliebtes Sprichwort, desto häufiger muss ich an jenen fraglos tiefen, dunklen Brunnen denken, in dem die Wahrheit ihre Nacktheit verbirgt und nur bewirkt, dass wir in die größten Verwirrungen geraten, über des Kaisers Bart streiten und damit nichts stiften als Ruin, Verzweiflung und Krieg.
    Brunnen ist demnach nicht Brunnen, Grund des Brunnens ist demnach nicht der Grund eines Brunnens; und im Sinne des Sprichworts bedeutet das schlicht und einfach, dass die Wahrheit sich ungern offenbart und ihre Nacktheit nicht in aller Öffentlichkeit dem Zugriff jedes gewöhnlichen Sterblichen darbietet. Dennoch ist es unsere Pflicht, die Pflicht jedes Einzelnen von uns, die Wahrheit jedes Tatbestandes zu suchen und in das Dunkel des Brunnens zu tauchen, bis wir ihr göttliches Licht finden.
    »Göttliches Licht« ist ein Ausdruck des Herrn Richters, wie übrigens der gesamte vorhergehende Absatz. Er ist so gebildet, dass er im Rednerton spricht und sogar in häuslichen Unterhaltungen mit seiner hochwohllöblichen Gemahlin, Dona Ernestina, wunderschöne Worte gebraucht. »Die Wahrheit ist der Leuchtturm, der mein Leben erhellt«, pflegt der Hochverdiente mit gerecktem Zeigefinger immer wieder zu sagen, wenn wir abends unter einem von zahllosen Sternen flimmernden Himmel bei gedämpfter Beleuchtung über die Neuigkeiten der Welt und unseres Vorstädtchens plaudern. Dona Ernestina, eine überaus korpulente Dame, glänzend von Schweiß und geistig nicht sonderlich gesegnet, pflichtet, ihren Elefantenschädel hin- und herwiegend, dem Gatten eifrig bei. Ein mächtiger, weithin ausstrahlender Leuchtturm, das ist die Wahrheit unseres noblen Herrn Richters im Ruhestand.
    Vielleicht dringt sein Licht gerade deshalb nicht in die nächsten Winkel, in die krummen Gässchen, in den Beco das Três Borboletas – die Sackgasse der drei Falter, in deren verschwiegenem Baumschatten das Häuschen der bildhübschen, strahlenden Mulattin Dondoca liegt, deren Eltern einst den Hochverdienten aufsuchten, als Zé Canjiquinha von einem Tag auf den anderen spurlos von der Bildfläche verschwand und in den Süden verduftete.
    In der plastischen Ausdrucksweise des alten Pedro Torresmo, ihres bekümmerten Vaters, hatte dieser Zé seine Dondoca kurzerhand »abgehängt« und die Kleine ohne Ehre und Geld sitzenlassen:
    »Im Elend, Herr Doktor Richter, im Elend …«
    Der Herr Richter hielt daraufhin eine Moralpredigt, die sich hören ließ, und versprach, das Nötige zu veranlassen. Angesichts des rührenden Bildes jenes Opfers, das unter Tränen lächelte, ließ er sogar eine Kleinigkeit springen, da – so unglaublich es klingen mag – hinter der gestärkten Hemdenbrust des Magistraten ein gütiges Herz schlägt. So versprach er, einen Such- und Haftbefehl gegen den »schmutzigen Don Juan« zu erlassen, wobei er in der Begeisterung für die Sache der verletzten Tugend völlig seinen Ruhestand und damit die Tatsache vergaß, dass ihm jetzt weder ein Staatsanwalt noch ein Polizei-Delegierter zur Verfügung stand. Außerdem würde er seine Freunde in der Hauptstadt für den Fall zu erwärmen suchen. Der »billige Verführer« solle der verdienten Strafe nicht entgehen …
    Höchstpersönlich – denn so gewissenhaft kommt der Herr Dr. Siqueira seinen Verpflichtungen des (wiewohl im Ruhestand lebenden) Richters nach – überbrachte er die Nachricht von den eingeleiteten Vorkehrungen in die entlegene Behausung der gekränkten, bedürftigen Familie. Pedro Torresmo schlief schon, er schlief seinen Schnapsrausch vom Vorabend aus; die hagere Eufrásia, die Mutter des Opfers, rackerte sich im Hinterhof beim

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