Zwei Katzen unterm Weihnachtsbaum
ist ein Menschenfest. Du darfst nicht vergessen, dass auch die Aufrechten über eine gewisse Intelligenz verfügen. Wenn die Tage ganz kurz, die Nächte lang, kalt und dunkel sind, dann sehnen sie sich – wie auch wir uns – nach Trost und Geborgenheit. Und genau wie wir haben sie erkannt, dass jedes Jahr der Tag kommt, an dem die Sonne wieder höher steigt und die lange Dunkelheit ein Ende hat. Dann feiern sie die Wiederkunft des Lichtes.«
»Und das ist Weihnachten?«
»So nennen sie es jetzt und hier. Früher hatte die Zeit einen anderen Namen, es gab andere Gebräuche, aber im Grund sind sie gleich. Man trifft sich, man zündet Lichter an, man versucht, Frieden zu halten.«
Raufer war zutiefst beeindruckt. Nimoue war, wie er von Scaramouche wusste, eine der Wanderkatzen. Eine Katze, die schon durch viele Leben gewandert war, die sicherinnerte und auf ihren Wegen unergründliche Weisheit gesammelt hatte. Scaramouche war auch einer von ihnen, und vor zwei Jahren hatte er ihn – da war Raufer noch recht jung – einige Monate unter seinen Schutz genommen. Große Bastet, was konnte der erzählen …
»Du … du bist schon sehr lange …«
»Ja, schon sehr lange. Ich habe in den Wäldern gelebt, als die Menschen erst begannen, sich Unterkünfte zu bauen, ich habe in den ersten Dörfern gelebt, als sie anfingen, Tiere zu zähmen, ich habe Mäuse in den Scheuern gefangen, als sie das Getreide anzubauen lernten, ich habe in ihren Städten gelebt, und sie haben mir Tempel gebaut. Ich habe in einem Stall ein Kind vor dem Biss einer Schlange bewahrt, um das sich später die Geschichten ihres heutigen Weihnachtsfests ranken. Ich habe in Klöstern und Burgen gelebt, in Schlössern und in Katen …«
»Du bist die Älteste der Ältesten«, hauchte Raufer, beinahe atemlos vor Ehrfurcht.
»Nein, nein. Nur eine ganz normale Wanderkatze. So, wie auch du eines Tages dich erinnern wirst.«
»Werde ich?«
»Es liegt an dir, Raufer, wie schnell du deine Lektionen lernst.«
»Welche?«
»Nun, deine erste hast du ganz gut bewältigt, oder? Du bist der Anführer eines Clans gewesen, du hast dich um deine Gefährten gekümmert und für sie einen verlässlichenFutterplatz gefunden. Jetzt könnte es deine Aufgabe sein, dich um einen Menschen zu kümmern.«
»Du meinst Kris?«
»Er hat dich aufgenommen.«
»Aber der braucht mich nicht. Er kann sich selbst helfen.«
»Kein Mensch kann sich selbst helfen.«
Heilige Bastet, konnte die Ehrwürdigste arrogant gucken.
»Ich dachte ja nur …«
»Menschen, auch große und starke, haben auch immer Löcher in ihrer Seele, Raufer. Manche ignorieren sie, andere leiden darunter, einige werden krank dadurch, manche finden Heilung. Ich würde deinen Kris gerne kennenlernen.«
»Er kommt morgen Abend wieder. Hat er gesagt.«
»Ich werde einige Tage bleiben. Mal sehen, was sich ergibt. Gleich kehren die beiden Frauen zurück, ich höre ihre Schritte.«
Tatsächlich betraten Anja und Ina die Wohnung und wurden von einem Duftschwall begleitet. Nimoue schnüffelte zufrieden, Raufer hingegen wurde schier überwältigt.
»Wald, Bäume, Bienenwachs!«
»Mhm. Und Zimt, Nelken, Orangen und Schokolade. Wenig bekömmlich für uns, aber die Aufrechten mögen das Zeug.«
Dann verfolgten die beiden Katzen einträchtig und mit größtem Vergnügen, wie Ina einen großen Strauß Tannenzweigein eine Vase stellte und ihn mit allerlei glitzerndem Spielzeug behängte, das augenblicklich dazu einlud, danach zu tatzen, es schaukeln oder sich drehen zu lassen. Erst verblüffte es Raufer ein bisschen, dass die Ehrwürdigste höchst ausgelassen damit zu spielen begann, aber er selbst konnte sich der Versuchung ebenso wenig entziehen.
»Also zumindest den beiden haben wir damit eine Freude gemacht, Anja.«
»Das sieht ganz so aus! Sie machen wundervolle Gestecke, Ina.«
»Damit habe ich früher mein Geld verdient«, erklärte Ina.
»Sie waren Floristin?«
»Auch. Mein Mann und ich hatten eine Gärtnerei, später ein richtiges Gartencenter. Ich habe neben der ganzen Geschäftstätigkeit aber nie aufgehört, mich für das Blumenbinden zu interessieren. Man kann so viel originelle und kreative Ideen dabei umsetzen.«
»Ich habe fünf Daumen an jeder Hand, fürchte ich.«
»Die einen können mit Pflanzen, die anderen mit Tieren umgehen, Anja. Und bei denen haben Sie begnadete Hände.«
Dieser Feststellung stimmte Raufer zu. Sie konnte wunderbar kraulen. Sie tat es jetzt gerade wieder, während Ina der
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