Zwei Katzen unterm Weihnachtsbaum
haben eine Sprache entwickelt, Laute, die sie mit Zunge und Lippen formen und die die Bilder ausdrücken, die sie in ihren Köpfen haben«, erklärte sie.
»Ja, sie machen diese Laute, und sie scheinen sich damit recht gut zu verständigen.«
»Nicht immer. Denn sie haben auch gelernt, diese Laute – Worte – zu verwenden, um andere über die Bilder in ihren Köpfen hinwegzutäuschen.«
»Wie kann denn das gehen? Das ist doch ein Widerspruch?«
»Nein, Raufer, das ist bewusste Täuschung. So wie ein Schmetterling, ein Pfauenauge zum Beispiel, seine Flügel entfaltet und seiner Umgebung das Bild zweier großer starrender Augen zeigt, um seine Feinde damit zu verscheuchen.«
»Ja – aber sehen die Menschen denn nicht die Bilder der anderen? Ich meine, so wie wir?«
»Manche können das, aber nicht viele. Es scheint ihnen der Sinn dafür verkümmert zu sein. Du musst also wissen, was ein Mensch dem anderen sagt, ist nicht immer das, was er meint.«
»Warum verbergen sie denn so viel?«
»Aus den unterschiedlichsten Gründen. Ina weiß, dass sie sehr krank ist, aber sie möchte nicht, dass andere ihre Schwäche sehen. Darum verschweigt sie ihre Schmerzen und ihre Angst vor dem Sterben. Und weil sie Angst hat, will sie auch nicht zugeben, dass sie wieder eine Katze braucht.«
»Aber Kris und Anja glauben ihr das.«
»Kris glaubt es, Anja nicht. Sie gehört zu den seltenenMenschen, deren Worte immer das bedeuten, was sie denken. Und darum erkennt sie wahrscheinlich auch, was andere mit ihren Worten verbergen«, meinte Nimoue.
»Und warum tut Kris das nicht auch?«
»Weil auch er sehr bemüht darum ist, niemandem zu zeigen, was er verbergen will.«
»Was ist das denn, Ehrwürdigste? Ich scheine kein guter Beobachter zu sein.«
»Doch, das bist du, Raufer. Versuch es mal, du kennst ihn jetzt lange genug. Wann sind die Laute, die er macht, anders als die Bilder, die er denkt?«
Raufer musste sich eine Weile den Latz putzen und dann auch noch die Schwanzspitze, während er seine Gedanken sortierte. Nimoue wartete geduldig, die Pfoten unter der Brust gefaltet, die Augen halb geschlossen. Ina bastelte mit gelegentlichen Knistern und Klappern, Rascheln und leisem Summen an ihren Gestecken herum.
»Er knurrt Anja manchmal wütend an, aber eigentlich würde er ihr viel lieber den Pelz lecken.«
»Mhm. Das glaube ich auch. Weiter!«
»Er ist sehr freundlich zu Ina, und das stimmt mit den Bildern überein. Er mag sie.«
»Richtig.«
»Und bei dem Tierarzt – das war komisch. Der hat etwas gesagt, das ihn furchtbar verärgert hat. Aber er hat darauf nur mit ganz kurzen Lauten reagiert. Das Dumme ist nur, dass ich so einen Panikanfall hatte – wegen dem Korbund so –, ich weiß nicht, was für Gedanken er da hatte. Jedenfalls hat er keine Rauferei mit dem Arzt angefangen. Obwohl ich das gar nicht schlecht gefunden hätte. Der hat mich gepikst!«
Nimoue gab ein seltsames Geräusch von sich.
Raufer starrte sie an. »Du … du machst dich über mich lustig, Ehrwürdigste!«
»Nur ein ganz kleines bisschen. Ich dachte, ein Raufer wie du erträgt weit schlimmere Schmerzen als das.«
»Ja, ja, ja, natürlich. Aber es ist fies.«
»Es ist vorbei.«
»Es könnte wieder passieren.«
»Dann wirst du all deine Tapferkeit zusammennehmen und es wie ein Kater ertragen.«
»Jawohl, Ehrwürdigste.«
Ganz sicher war Raufer sich aber nicht. Und um diese Angelegenheit nicht weiter zu vertiefen, fragte er ein wenig aufsässig: »Was hast du denn über Kris herausgefunden, Ehrwürdigste?«
»Das eine oder andere.«
»Und was ist das eine?«
»Er ist ein Raufer.«
»Weiß ich. Und das andere?«
»Aus Trotz.«
»Aus Trotz?«
»Das unterscheidet euch beide. Du bist es aus Notwendigkeit, er aus Trotz.«
»Trotz – was heißt das?«
»O Raufer, noch eine Lektion. Trotz – das heißt: ›Dann mach ich’s jetzt gerade!‹ Das beherrschen wir Katzen doch auch recht gut. Wenn dir jemand sagt, dass du nicht die Möbel zerkratzen sollst, und du machst es einfach deswegen, weil er es verboten hat, und nicht, weil du dir die Krallen schärfen musst, dann ist das Trotz.«
»Soll heißen, jemand hat Kris das Raufen verboten, und nur deswegen ist er ein richtiger Raufer geworden?«
»So stelle ich es mir vor. Und du könntest versuchen herauszufinden, wer ihm warum das Raufen verboten hat. Denn Trotz führt immer dazu, dass man ein anderes Gefühl damit verstecken will. Und Gefühle, die ein Mensch verstecken muss, fressen
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