Zwei Mädels. Ein Weg. Ein Zelt.
abzuheben droht. Alice und ich greifen den Stiel und wünschen uns einen Gratisflug direkt ins Pilgerziel nach Santiago. Wir müssten dann nicht mehr laufen, scherzen wir und lachen herzhaft. Am Nebentisch steigt die Stimmung daraufhin gleich richtig an und eine spanische Frau springt mit ihrer männlichen Begleitung auf und beide rufen „Mary Poppins, Mary Poppins!“ und verfallen in fröhliche Gesänge und tanzen um den Tisch.
Schön, wie locker und ausgelassen die Menschen hier sind. Die scheinbar magische Kraft der spanischen Sonne verfehlt auch bei uns ihre Wirkung nicht und wie so oft schlendern Cornelia und ich überaus gut gelaunt weiter. Die Lichtstrahlen hier sorgen für gute Stimmung. Menschen, die in sonnigen Regionen leben, verfügen schließlich über eine vermehrte Glückshormonproduktion. Selbst ich, als alter Norwegenfan, fange an, die knallig heißen Wetterbedingungen zu lieben. Die Temperatur entscheidet scheinbar wirklich rigoros über mein Temperament. Weil Conny und ich unseren Knochen und Muskeln heute mal eine kleine Ruhepause gönnen wollen, machen wir nach 13 Kilometern Schluss und suchen nach einer verwucherten Ecke für unser Zelt. Wir werden in einem Abschnitt aus Bäumen und Büschen, inmitten von Getreidefeldern, fündig und verfallen in unsere üblichen Campingrituale. Als es dämmert krabbeln wir in unsere heißgeliebte Stoffhöhle und spielen noch einige Runden Skat und Rommé.
Weil sich die gruseligen Sachen ja immer erst in der Dunkelheit ereignen, dauert es bis ungefähr halb zehn, als uns laute Motorengeräusche einen gehörigen Schrecken einjagen. Plötzlich sind nun auch noch Scheinwerfer auf unser Zelt gerichtet. Was zur Hölle ist das hier fernab der Straße? Todesmutig stülpt sich Conny ihren Hut auf und späht aus dem Zelteingang in die Nacht. Die Spanier haben einen seltsamen Tagesrhythmus. Da ist doch jetzt tatsächlich ein Bauer in seinem Traktor unterwegs und pflügt sein Feld. Auch wenn wir sicher sind, dass er uns dank der umliegenden Dickichtfront nicht sehen kann, hocken wir still im Zelt und warten ab, bis er seine Arbeit beendet hat. Wir fühlen uns wie in unserem ganz persönlichen „Traktor-Horrorfilm“ und sind froh, dass die landschaftlichen Gegebenheiten hundertprozentigen Anti-Traktor-Überrollschutz bieten.
Pilgertag 09.
ETAPPENZIEL: VILLAFRANCA-MONTES DE OCA
So groß ist unser Schock jedenfalls nicht ausgefallen, denn wir erwachen am nächsten Morgen erst kurz vor 10:00 Uhr nach einer überaus langen Nachtruhe. Das einzige Manko: Ich friere heute Früh total. Besonders meine Füße fühlen sich wie zwei Eisklötze in meinem dunkelblauen Schlafsack an.
Dafür gibt es jedoch einen triftigen Grund. Ich sehe verschlafen an mir herunter und bemerke, dass ich mit meinen Füßen den Reißverschluss am Eingang durchbohrt habe und meine Beinchen außerhalb des Zeltes hängen. Hübsch wie sich der letzte Morgentau so langsam von der Oberfläche meines Schlafsacks verabschiedet! Auf dem heutigen Weg nach Belorado tauen meine Füße langsam wieder auf. In diesem etwas größeren Ort ist heute ordentlich etwas los. Scheinbar alle Bewohner haben sich versammelt und feiern ein lebhaftes und buntes Erntedankfest. Zwei nette Mädels halten uns sogar ihren Riesenbecher Sangria hin und bitten uns zu kosten. Schmeckt super zum Frühstück! Als wir zum Spätnachmittag in Villafranca Montes de Oca ankommen, treffen wir gleich an dem ungemütlichen und zugemülltem Ortseingang auf Alice und Stefan, die scheinbar auch erst vor kurzem Bekanntschaft geschlossen haben und nun in einer Bar gemeinsam Cola trinken. Die liebe Alice kauft uns prompt einen Milchkaffee und wir erzählen ihr, dass wir am kommenden Morgen, aus Zeitgründen, einige Kilometer schummeln werden und mit dem Bus nach Burgos und dann weiter nach Frómista fahren wollen. Weil Alice den ganzen Weg laufen wird, steht fest, dass es sich in dieser Bar um unseren letzten gemeinsamen Kaffee handelt. Aus diesem Grund spendiert Conny zum Abschied eine Flasche des famosen Vino tinto, den Alice und Stefan leider ablehnen. Stefan hat die vergangenen Abende schon das ein oder andere Mal tiefer in sein Weinglas geschaut und hat heute wahnsinnige Magenprobleme zu beklagen. Alice, die während ihrer Pilgerreise aus Prinzip keinen Alkohol trinken möchte, lehnt dankend ab. Auwei, da haben Conny und ich ja jetzt noch etwas vor uns! Die Flasche Wein bleibt also an uns hängen. Weil sich keine von uns mit soviel
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