Zwei Mädels. Ein Weg. Ein Zelt.
Ich sollte versuchen in Santiago zwei Pilgerurkunden zu bekommen. Schließlich bin ich bis dahin den Camino, dank unserer Gedankenlosigkeit, sicherlich fast doppelt so weit gelaufen. Nahezu zwei Kilometer zurückspaziert, kommt mir ein netter junger Deutscher mit den staubigen Kleidungsstücken entgegen und ich nehme ihm die Klamotten dankend ab. Er stellt sich mit dem Namen ,Stefan’ vor und wir schwatzen ein Weilchen, bis er eine Raucherpause mit zwei Mädels am Wegesrand einlegt. Schnelleren Schrittes kehre ich zur wartenden Cornelia zurück, die mich freudestrahlend und dankend begrüßt. Als kühne Retterin ihres Dekolletés freue ich mich nun auf meinen Extra-Kaffee.
Auf dem Weg in unseren Frühstücksort Grañón fasele ich vor mich hin, dass ich mir noch einmal ein lustiges Frühstück mit Friedrun oder Alice wünsche. Ohne den Verlust weiterer Kleidungsstücke schaffen wir es in eine Bar, in der wir gerade den zweiten „Café con leche“ schlürfen, als die beiläufig erwünschte Alice um die Ecke kommt und sich freudestrahlend zu uns setzt. Toll, wie hier schon wieder ein Caminowunsch in Erfüllung gegangen ist! Unsere Erwartungen an einen urkomischen Morgenimbiss mit unserer gewitzen Australierin waren nicht zu hoch, denn die liebe Alice hat eine Wahnsinnstory parat, die sich am Vortag tatsächlich ereignete: Mit einem Gratisfrühstück eines großzügigen Barbesitzers beginnt der Tag verheißungsvoll. Frisch, dankbar und gut gestärkt wandert Alice also los und genießt die Natur. Inmitten der Landschaft macht sie einen Schäfer aus, der mit seinem Hund auf seine Schafe aufpasst. Als dieser die blonde Alice entdeckt, winkt er sie zu sich heran. Die verwunderte Australierin sieht zunächst keine Veranlassung sich dem Mann zu nähern und signalisiert ihm mit einer eindeutigen Handgeste, dass sie doch weiterlaufen müsse. Der Schafhirte winkt erneut und bittet sie zu sich. Weil der freundliche Mann so bemüht ist um ihre Aufmerksamkeit, schlendert unsere sympathische Alice langsam auf ihn zu und als sie ihm direkt gegenüber steht, wird klar was er so Wichtiges auf dem Herzen hatte. Der alte zahnlose Mann schnappt sich nämlich urplötzlich sein weibliches Gegenüber und drückt ihr drei fette Küsse ins Gesicht: Zuerst auf die linke Wange, dann auf die rechte und schließlich direkt auf den Mund! Na herzlichen Glückwunsch Alice! Unsere Freundin ist erschüttert und kann nicht fassen, was gerade passiert ist. Allmählich entfernt sie sich taumelnd von dem zahnlosen Greis und setzt ihre Wanderung fort. Kaum im nächsten Dorf angelangt, trifft sie auf einen unglaublich gut aussehenden, rassigen, jungen Spanier, der ihr gleich ordentlich den Hof macht. Die Beiden plaudern eine ganze Weile miteinander. Irgendwie knistert es ganz schön und sie liegen voll auf einer Wellenlänge.
Ob der Schäferkuss in Alice wohl eine klitzekleine Ladung erotische Spannung freigesetzt hat? Manche Pilger behaupten ja, dass der Weg, in einigen Fällen, auch eine prima Kontaktbörse darstellen kann. Der „Camino der Liebe“ also? Kann schon sein, dass die gemeinsame Zielsetzung und das Kennenlernen unter den außergewöhnlichen Lebensbedingungen irgendwie zusammenschweißen, aber Gesetz den Fall, Amor schlägt wirklich mal zu: Wie lässt sich dann kribbelnde Erotik mit einem Pilger-Massenschlafsaal vereinbaren? Vor diesem Problem steht Alice in diesem Moment jedenfalls nicht, denn der einheimische Loverboy drückt ihr seine Visitenkarte in die Hand und meint: „Wenn du heute Abend in meinem Heimatort ankommst, ruf einfach durch und du musst die kommende Nacht nicht in einer stickigen Pilgerherberge verbringen.“ Wenn das mal kein lukratives Angebot ist! Mit der Visitenkarte in der Hand setzt Alice ihren Weg fort und läuft ihrem heutigen Etappenziel entgegen. Dort angekommen wägt sie ihre Übernachtungsoptionen ab, wobei sich Engelchen und Teufelchen einen erbitterten Kampf auf ihren Schultern liefern: Sexy Spanier contra Massenschlafsaal.
Ihre Entscheidung steht: Heute Nacht wird es für Alice das Nonnenkloster! Cornelia und ich liegen flach vor Lachen und müssen aufpassen, dass wir unseren Milchkaffee nicht durch die Gegend prusten. Nach dem dritten oder vierten „Café con leche“ zückt Conny die Kamera und sorgt für Erinnerungsstoff fürs Fotoalbum. Sie hält gerade voll drauf auf unsere grinsenden Gesichter, als sich plötzlich Wind unter unseren tischeigenen Sonnenschirm setzt und das Ding samt Plastiktisch
Weitere Kostenlose Bücher