Zwei Seiten
gegenüber an den Esstisch.
»Was war gestern mit dir los?«, fragte Nathalie nach kurzem Zögern.
»Was meinst du?«
»Du hast doch nicht wirklich gemeint, was du zu Julia gesagt hast.«
Ich wich Nathalies Blick aus und nahm einen großen Schluck. Wie sollte ich darauf antworten? Sicher, ich war gestern etwas direkt gewesen, aber sie hatte darauf total überzogen reagiert.
»Ich fasse es nicht.« Nathalie stand auf, goss sich auch einen Kaffee ein und nahm wieder Platz. »Wir kennen uns jetzt wie lange? Etwas über zwei Jahre, richtig?«
Ich nickte.
Nathalie stellte ihre Tasse beiseite. »Du musst denken, ich sei bekloppt, aber die wenigen Situationen, in denen du schwulenfeindliche Sprüche gebracht hast, habe ich wirklich gedacht, du machst Scherze. Ich fand‘s nicht komisch, aber ich dachte, das wäre halt dein Humor. Im Leben hätte ich nicht gedacht, dass meine beste Freundin homophob ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt übertreibst du aber.«
Nathalie stand erneut auf und stellte sich mit verschränkten Armen vor mich. »Ist das so? Scarlett, ich habe mich gestern Abend geschämt, deine Freundin zu sein. Verdammt, es war mir sogar peinlich, dich zu kennen.«
Meine Kinnlade fiel runter.
Eine lange Zeit sahen wir einander schweigend an.
Dann sagte Nathalie: »Das gestern Abend warst nicht du.«
»Was war ich nicht?« Ich schob mein Kinn nach vorne. »Hab ich nicht das Recht auf meine Meinung? Du tust fast so, als ob ich die Wiedereinführung der Apartheid in Südafrika gefordert hätte.« Ich nahm mehrere tiefe Atemzüge, um mich zu beruhigen. Erfolglos. »Du fragst mich, was gestern mit mir los war? Was ist mit dir los, Nathalie?«
»Was du hast, ist keine Meinung. Deine Worte gestern klangen wie eine Hasstirade.« Sie legte eine Hand auf meine Schulter und sagte leise: »Ich habe dich nicht wiedererkannt.«
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Vielleicht war ich nicht sehr diplomatisch gewesen, aber deshalb hatte ich es nicht weniger gemeint. Alles, was ich getan hatte, war, die Wahrheit auszusprechen.
Ich hasste Homosexuelle nicht. Sie taten mir bestenfalls leid, und ich fühlte mich von ihnen belästigt. Und … ja, ich sah sie auch als Gefahr für Kinder und Jugend und Sitte und Moral. Aber Hass fühlte ich nicht. Oder? »Ich habe mich bei Julia entschuldigt. Und heute Abend gehen Oliver, Julia, eine Freundin von ihr und ich sogar zusammen tanzen. Das sagt doch wohl genug.« Wieso rechtfertigte ich mich hier eigentlich? Warum sollte ich mich dafür entschuldigen, dass Homos mehr und mehr in die Öffentlichkeit drängten und unsere Gesellschaft vergifteten?
Jetzt, wo ich darüber nachdachte, war es doch keine gute Idee, heute Abend mit den Dreien auszugehen. Am Ende würde Julia noch denken, ich würde ihren kranken Lebensstil gutheißen.
Nathalie setzte sich wieder. Ihre braunen Augen betrachteten mich eindringlich. »Ich hab es selbst mal mit einer Frau ausprobiert.«
Oh mein Gott! Mit beiden Händen umklammerte ich die Tischkante, in der Hoffnung, nicht vom Stuhl zu fallen.
»Ich wollte mal sehen, ob das was für mich ist.«
Ich starrte sie an. War das ein Witz? Wenn ja, hatte Nathalie einen echt kranken Humor.
Sie zuckte mit den Schultern. »Es war ganz nett, aber irgendwas fehlte halt.« Sie betrachtete mich ernst. »Der Punkt ist, es wäre nicht schlimm gewesen, wenn ich es gemocht hätte und dabei geblieben wäre. Oder wenn ich Männer und Frauen mögen würde.« Nathalie griff nach meiner Hand, doch ich zog sie weg.
In ihren Augen zeichneten sich Tränen ab. »Wer zur Hölle hat dir bloß so einen Mist eingetrichtert?«
Ruckartig stand ich auf. Ich konnte mir das nicht länger anhören. Ohne ein Wort zu sagen, schnappte ich mir meine Jacke und verließ die Küche.
»Wo gehst du hin?«
»Ich brauche frische Luft«, brummte ich und stürmte aus der Wohnung.
* * *
Mein Weg führte mich in den nahegelegenen Stadtpark. Mit hochgeschlossener Jacke und den Händen in den Hosentaschen ließ ich das Gespräch mit Nathalie und die aktuellen Ereignisse noch einmal Revue passieren. Was würde mein Vater jetzt wohl tun? Ich schüttelte den Kopf über diesen automatischen Gedanken. Mein Vater war vor drei Jahren an einem Aortenaneurysma gestorben und trotzdem versuchte ich nach wie vor, ihm alles recht zu machen. Aber das hatte ich schon zu seinen Lebzeiten nie geschafft.
Ich vergrub mein Gesicht im Jackenkragen und fasste einen Entschluss.
* * *
»Jetzt erzähl
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