Zwei Seiten
mal, warum du hier bist.« Meine Mutter stellte eine Tasse Pfefferminztee vor mir ab und setzte sich neben mich an den Esstisch in der Küche.
»Brauche ich einen Grund, um dich zu besuchen?«, fragte ich, während ich Popeye auf meinem Schoß hinterm Ohr kraulte.
»Nein, natürlich nicht«, sagte meine Mutter. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass dich etwas beschäftigt.«
Ich senkte den Blick und suchte nach den richtigen Worten. Diese ganze Sache war einfach lächerlich. Warum musste Nathalie bloß so überreagieren? Ich holte tief Luft. »Nathalie und ich haben uns gestritten.«
»Worum ging es?«
Ich blies auf meinen Tee und nahm einen kleinen Schluck. »Wir haben unterschiedliche Meinungen über etwas.«
»Und worüber?«
»Sie findet es vollkommen in Ordnung und normal, wenn Homosexuelle durch die Gegend laufen und ihre … Neigungen ausleben. Sie hat mir sogar erzählt, sie«, ich musste schlucken, »hat so was selbst mal gemacht.«
Meine Mutter schaute mich mit einem sehr merkwürdigen Gesichtsausdruck an, und ich war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob es eine so gute Idee gewesen war, mit ihr über dieses Thema zu sprechen.
»Man kann nichts für seine Gefühle, Scarlett.«
Ich blinzelte. Mit dieser Antwort hatte ich echt nicht gerechnet. »Was meinst du damit?«
Mama sah unglaublich traurig aus. Es war derselbe Gesichtsausdruck, den ich so oft in meiner Kindheit bei ihr beobachtet hatte. »Du kannst Menschen nicht für ihre Gefühle verurteilen.«
»Das tue ich doch gar nicht«, sagte ich lauter als beabsichtigt und Popeye sprang von meinem Schoß. »Diese Leute können nichts dafür, krank zu sein. Aber die meisten versuchen nicht mal, was dagegen zu tun. Sie sehen nicht, dass die Art, wie sie leben, falsch ist.«
»Du musst das, was sie tun, nicht richtig finden. Denn das ist es nicht.« Meine Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Aber hier geht es nicht um richtig oder falsch. Es geht um Toleranz. Wir müssen nun mal alle miteinander auskommen. Das schließt auch Homosexuelle mit ein.«
Ich dachte einen Moment über ihre Worte nach. Dann sagte ich: »Das ist keine Frage der Toleranz. Sie verderben unsere Kinder und bringen sie auf dumme Gedanken. Außerdem fühle ich mich in der Gegenwart von diesen Leuten nicht wohl.«
Mama betrachtete mich für eine Weile, bevor sie fragte: »Hat dir jemals ein Homosexueller etwas getan?«
»Wie meinst du das?«
»Ist dir zum Beispiel jemals eine Lesbe zu nahe getreten?«
Ich dachte sofort an Julia und unsere Zusammentreffen. War sie mir wirklich zu nahe getreten? Nein, eigentlich nicht. »Nein.«
»Vielleicht wollen diese Leute bloß das, was alle anderen auch wollen: einfach in Frieden leben.«
»Aber warum müssen sie es so zur Schau stellen?«
»Ich hab auch nicht alle Antworten, Scarlett.« Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Dein Vater und ich hatten etwas unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema.«
Warum erwähnte sie das? Erst jetzt wurde mir etwas bewusst: Mama hatte nie so hasserfüllt wie mein Vater über Homosexuelle geredet. Ich lehnte den Kopf an ihre Schulter und seufzte. »Es ist wirklich eine Schande, dass wegen dieser Sache meine Freundschaft mit Nathalie in Gefahr ist.«
»Glaubst du das?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir denken zu unterschiedlich.«
»Dann sag Nathalie das.«
»Was soll ich ihr sagen?«
»Ihr denkt unterschiedlich darüber, aber es ändert nichts an eurer Freundschaft. Zumindest solltest du ihr das sagen, wenn du so fühlst.«
Tat ich das? War es okay für mich, vollkommen unterschiedlicher Meinung mit Nathalie zu sein? Möglicherweise wäre dem so gewesen, wenn ich nicht ständig das Bild von Nathalie im Kopf gehabt hätte, wie sie mit einer anderen Frau … was auch immer tat. »Danke, Mama. Ich werd drüber nachdenken.«
* * *
Ich klopfte an Nathalies Zimmertür und wartete. Nach wenigen Augenblicken ging die Tür auf und meine beste Freundin stand vor mir.
Ihre Augen waren geschwollen. Hatte sie geweint?
Einen Moment lang schauten wir einander an, bevor wir einander in die Arme fielen.
»Es tut mir leid, Nathalie. Wir haben einfach unterschiedliche Meinungen in dieser Sache.«
Wir brachen in Tränen aus. Es war der erste Streit, den wir jemals gehabt hatten.
»Ich respektiere deine Meinung, Scarlett, aber ich verstehe deinen Hass nicht.«
»Ich hasse Homosexuelle nicht.«
»Es klingt aber so. Ach, lass es uns vergessen. Okay?«
Ich nickte und löste mich aus der
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