Zwei Seiten
alle meine Freunde eingeladen.« Ich lächelte bei der Erinnerung.
»Was ist passiert?«
»Die Party war klasse. Wir feierten im Keller unseres Hauses. Es gab da einen großen Raum. Den hatte mein Vater geschmückt und die Musikanlage war da. Alles war perfekt. An dem Abend bekam ich meinen ersten Kuss.« Ich schaute Julia an. »Von Martin Helmer. Er war der coolste Junge der Klasse und alle meine Freundinnen beneideten mich.«
Julia schmunzelte.
»Mein Vater hatte die Sache aber wohl mitbekommen. Wahrscheinlich, als ich mit meiner besten Freundin Karola beim Verabschieden an der Eingangstür darüber gesprochen hatte. Nachdem alle gegangen waren, kam mein Vater zu mir. Ich weiß noch genau, was er sagte.«
Ich ahmte seine Stimme nach: »Du bist viel zu jung für diese Schweinereien. Wenn du so weitermachst, werden dich bald alle ›Flittchen‹ nennen. Oder Schlimmeres.«
Julia riss die Augen auf.
»Das einzig Gute daran ist, dass du dich von diesen Perversen fernhältst.«
»Wen meinte er damit?«
Ich runzelte die Stirn. »Womit?«
»Mit den Perversen?«
Die Antwort war mir auf einmal unangenehm. »Homosexuelle.«
Julia presste die Lippen aufeinander.
»Mein Vater war ziemlich …«
»Homosexuellenfeindlich?«
»Ähm, ja.«
»Wie konnte er dich an deinem Geburtstag so angreifen? Und mal so unter uns, es gibt Schlimmeres, als mit vierzehn seinen ersten Kuss zu kriegen. Gott, manche sind in diesem Alter schon schwanger.«
Ich mied ihren Blick. Oft dachte ich an diesen Abend zurück. Vielleicht, weil dieser Tag perfekt gewesen war, bis mein Vater ihn ruinierte. Es hatte während meiner Kindheit und Jugend viele solcher Situationen gegeben. Aber diese blieb mir am meisten im Gedächtnis. »Er war immer etwas extrem, wenn es um jegliche Art von Intimität und Sexualität ging. Schätze, das war seine Generation.«
»Meine Eltern waren nie so«, sagte Julia.
»Wie haben deine Eltern reagiert, als du … na ja, als du ihnen gesagt hast, dass du …«
»Dass ich lesbisch bin?«
Ich nickte.
»Mein Vater hat gar nichts gesagt, und meine Mutter hat angefangen zu weinen. Es war eine ziemlich harte Zeit.« Sie schloss für einen Moment die Augen. »Für uns alle.«
»Und wie ist es jetzt?«
»Ich glaube, sie kommen gut damit klar. Meine Mutter sagte mal zu mir, sie wünschte sich, ich würde es nicht so schwer haben. Vermutlich meinte sie damit solche Sachen wie damals der Angriff auf mich.«
Ob ich noch einmal fragen sollte? Jetzt, wo ich Julia besser kannte, wollte ich es endlich verstehen. »Julia, ich … ich begreife es nicht.«
»Schieß los. Was denn?«
»Warum kämpfst du nicht dagegen an? Das Leben wäre doch so viel einfacher. Ich bin sicher, man kann das behandeln.«
Julia sah mich einige mir endlos vorkommende Augenblicke stumm an. Dann stand sie auf, goss sich einen weiteren Kaffee ein und hielt mir die Kanne hin.
»Ja, danke.«
Sie füllte meine Tasse erneut auf und setzte sich wieder hin. »Wenn ich wählen könnte, würde ich heterosexuell sein wollen. Aber es ist keine Wahl.«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie stoppte mich mit einer Handbewegung.
»Es wäre nicht einfacher, wenn ich eine Lüge leben würde. Sicher, ich müsste keine Angst haben, wegen meiner sexuellen Orientierung diskriminiert oder bedroht zu werden, aber ich würde verleugnen, wer und was ich bin. Es ist keine Krankheit, wie du jetzt schon mehrfach gesagt hast. Kein Medikament und kein Therapeut kann das … kann mich ändern.«
Ich öffnete den Mund, um dem zu widersprechen, doch Julia sprach schon weiter.
»Wenn ich einen Mann küsse, ist es wie … ich fühle einfach nichts. Wenn ich eine Frau küsse, wird mir ganz warm. Es ist«, sie schmunzelte, »okay, ich erspare dir die Einzelheiten. Lass uns sagen, es ist ein sehr gutes Gefühl.«
Ich fiel mir schwer, nicht den Kopf zu schütteln. Wie konnte sie so was bloß gut finden?
»Sag mir eine Person, nur eine einzige Person, der ich schade, indem ich bin, wer ich bin, und dazu stehe.«
»Du selbst, deine Eltern und deine Brüder.«
»Du glaubst das wirklich, stimmt‘s?« Julias Stimme war nicht ärgerlich. Sie klang eher verwundert.
Ich nickte.
»Wenn ich mich selbst verleugnen würde, wäre ich auf jeden Fall unglücklicher. Und was meine Eltern und meine Brüder betrifft: Sie lieben mich und möchten, dass ich glücklich bin.«
»Also gibst du zu, unglücklich zu sein?« Eventuell konnte ich sie ja doch überzeugen, dass sie
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