Zwei Seiten
…
»Das habe ich nicht gesagt. Du legst mir hier etwas in den Mund.« Sie betrachtete ihre Hände. »Na ja, vielleicht bin ich nicht vollkommen glücklich. Aber nicht, weil ich lesbisch bin, sondern weil es Menschen gibt, die mich nicht so akzeptieren, wie ich bin. Damit meine ich mich als Person, nicht bloß mich als Lesbe.«
»Also machst du die Gesellschaft dafür verantwortlich, unglücklich zu sein? Es können doch nicht alle falsch liegen.«
»Ich wette, genau derselbe Satz wurde von Männern in Bezug auf die Suffragetten verwendet.«
»Willst du Homosexuelle mit der Frauenbewegung vergleichen?«
Julia zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«
»W… w… weil das eine ein gesellschaftlicher Disput und das andere etwas Unnatürliches ist.«
»Etwas Unnatürliches, das in allen Teilen der Natur vorkommt.« Ich öffnete den Mund, doch Julia sprach weiter: »Und natürlich kann man es vergleichen. Es geht um gesellschaftliche Anerkennung einer bis dato benachteiligten Gruppe, die nichts anderes fordert, als ihr Leben gleichberechtigt leben zu dürfen.«
Diese Diskussion brachte uns nicht weiter. Julia verglich hier Äpfel mit Birnen und schien den Unterschied nicht sehen zu wollen oder nicht sehen zu können. Daher beschloss ich, dieses Thema ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen. »Wir haben unterschiedliche Standpunkte. Ich verstehe dich nicht, und du verstehst mich nicht. Aber wenn wir dieses Thema beiseiteschieben, können wir sicher miteinander auskommen. Was meinst du?«
Wir sahen einander eine ganze Weile stumm an.
Dann sagte Julia schmunzelnd: »Ich hab gerade so ein Déjà-vu-Gefühl. Waren wir nicht schon mal an einem ähnlichen Punkt? Warum glaubst du, dass es diesmal besser mit uns klappen wird?«
Ich stupste ihren Arm. »Hey, ich hab mir wirklich Mühe gegeben.«
Julia nahm einen Schluck Kaffee und grinste mich an. »Es konnte ja nur besser werden.«
Was sollte ich dazu sagen? Am besten gar nichts. »Erzähl mal, was du heute noch vorhast. Rausch ausschlafen, schätze ich mal.«
»Ehrlich gesagt, nein. Ich wollte ein paar Sachen für die Arbeit kaufen.«
»Arbeit? Ein Semesterferienjob?«
Julia schüttelte den Kopf. »Mein PJ beginnt am Montag.«
»PJ?«
»Praktisches Jahr. Ich werde im Krankenhaus arbeiten. Das ist der letzte Teil des Studiums. Danach mache ich das zweite Staatsexamen, reiche meine Doktorarbeit ein und werde Assistenzärztin. Zumindest, wenn ich eine Stelle finde.«
»Du bist schon so weit?«
Julia nickte.
»Und was willst du heute einkaufen?«
»Ein Stethoskop. Und zwei oder drei bequeme weiße Hosen natürlich und ganz wichtig, bequeme weiße Schuhe. Und vielleicht ein Penlight.« Julia klang ganz enthusiastisch. Nach kurzem Zögern begann sie, mit einem Finger am Rand ihrer Tasse entlangzufahren. »Wenn du Lust hast, kannst du ja mitkommen.«
Es überraschte mich, aber ich dachte wirklich darüber nach, Julias Angebot anzunehmen. »Ach, warum eigentlich nicht? Aber …«
»Aber was?«
»Ich kann doch nicht als Nonne durch die Stadt laufen.«
»Oh.«
»Wir müssen eben bei mir vorbeigehen, damit ich mich umziehen kann. Weißt du schon, wo du hingehen willst?«
Julia nickte.
»Perfekt. Sollen wir starten?«
Julia strahlte. »Klar.«
* * *
»Und wie dann plötzlich das Fleisch von deinem Chop Suey durch die Gegend flog und du ganz unschuldig zu dem Kind am Nachbartisch schautest, dachte ich wirklich, das Mädchen würde was sagen.« Julia lachte bei der Erinnerung an mein kleines Missgeschick vor wenigen Stunden beim Chinesen und hielt sich an meinem Arm fest.
»Was hättest du denn getan? Ich habe dich ja vorher gewarnt, dass ich besser nicht mit Stäbchen essen sollte.« Ich lachte nun auch.
Julia schloss die Eingangstür auf.
Oliver stand im Gang. Offenbar kam er gerade aus dem Bad. Er schaute zwischen Julia und mir hin und her. »Hallo, ihr beiden.« Oliver nahm Julia ein paar Taschen ab, beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss auf den Mund.
Ich rang mir ein Lächeln ab und schloss die Tür. Keine Ahnung, warum, aber irgendwie war ich nicht froh, ihn zu sehen.
Vielleicht, weil Julia auf einmal wieder ganz ernst dreinschaute.
»Wie war‘s mit Michael?« Julias Tonfall war warm, aber sie wich Olivers Blick aus.
»Ich kann jetzt rückwärts Schlittschuh laufen und Michi erklärte mir, wie ich die Richtung besser kontrollieren kann, wenn ich schnell unterwegs bin.« Er wackelte mit den Augenbrauen. »Und du solltest mal sehen, wie cool
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