Zwei Sonnen am Himmel
bedeckten, unter freiem Himmel liegenden Hof. In der Mitte glänzte, auf einem Sockel ruhend, unter dem senkrecht herabfallenden Mondlicht, der schwarze Stein. Er war würfelförmig. Seine Kanten waren so genau und gleichzeitig so grob behauen, dass niemand hätte sagen können, ob sie von einem menschlichen Wesen oder ganz einfach von der Natur so geformt worden waren. Auf der spiegelnden Oberfläche schimmerte das Mondlicht. Es war zweifellos ein Stein, doch seine Vollkommenheit gab ihm das Aussehen eines spiegelglatten Metalls.
Mit ihrer Fackel zündete Zena das Harz in den Räucherschalen an, die an den vier Ecken des Sockels standen. Sie entnahm einer kleinen Dose ein Pulver und schüttete es in die glühende Kohle. Herber, aromatischer Duft stieg auf. Zena atmete tief den warmen Dunst ein. Bald spürte sie, dass sich ihr Bewusstsein verwirrte, dass sie in eine Sphäre aus Tönen und Widerhall, Seufzern und klagenden Lauten versank. In ihren Schläfen pochte es. Ein eiserner Reif schien ihr Haupt zu umschlieÃen. Schwankend kniete sie dicht neben dem Stein nieder. Ihre Hand hob sich, und mit ihr der wie ein purpurner Flügel schwebende Ãrmel. Langsam begann sie mit der Fassung ihres Ringes an die dunkel schimmernde Fläche des Steins zu pochen. Die Berührung verursachte ein Klingen, das leise und eindringlich zugleich in Zenas Gehör drang. Eine seltsame Leere breitete sich in ihrem Kopf aus. Rötlicher Nebel stieg auf. Jetzt teilte er sich wie ein Vorhang: Vor Zenas Augen klaffte der Himmel wie ein Abgrund in leuchtendem Rot. Täler, Berge und Städte wurden für Zena sichtbar, die sie noch nie zuvor erblickt hatte. Von jeder Schwere, jedem Gefühl befreit schwebte sie über finstere Höhen von Gebirgen, über glitzernde Salzwüsten und perlmutterfarbene Seen. Plötzlich schien der Horizont zu schwanken: Eine blendende Feuerkugel durchbrach das Rot, fegte in einem Strahlenkranz heller Blitze der Erde entgegen. Die Berggipfel zerbarsten, der Boden bäumte sich auf. Riesige, phosphoreszierende Wogen schlugen gegen den Himmel. Zena stöhnte vor Entsetzen. Ihre Hand zuckte, schlug immer schneller, immer heftiger gegen den Stein. Wolkenbänke rollten heran, öffneten sich und rollten von neuem heran. Die Berge wurden von StöÃen geschüttelt. WeiÃe und goldglänzende Städte versanken in Flammenströmen, während der Ozean, vom Himmel angesogen, sich ins Feuer warf, um ebenfalls zu Feuer zu werden und in wirbelnden Rauchwolken aufzulodern.
Mit einem Mal änderte sich das Bild. Ein anderes Meer tauchte vor Zenas Blicken auf. Aber es waren nicht mehr Wassermassen. Es war Sand. Horizonte aus Sand, der sich unter der Formwandlung des Lichtes und unter der barbarischen Morgensonne endlos wellte. Weit hinten in der Ferne hob sich deutlich ein sonderbar geformter Turm vom Himmel ab. Nirgends hatte Zena etwas Ãhnliches gesehen. Eher noch als ein Turm schien es ein riesiger Kegel zu sein, der wie rotes Email glänzte und lichtüberflutet aus dem blau schimmernden Nebel auftauchte. Bei seinem Anblick verspürte Zena ein eigenartiges Gefühl der Kraft und Zuversicht. Eine wohltuende Strahlung ging von dem leuchtenden Kegel und seinen harmonischen Proportionen aus. Drei Worte drangen ihr deutlich vernehmbar ins Bewusstsein: Erinnerung, Ãberleben, Zukunft.
War es ihre eigene Stimme, die sie vernommen, oder die Stimme des Steins?
Um sie herum drehte sich das Licht; die Flammen erloschen, der Himmel verdunkelte sich. Mit einem Schlag fand Zena wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie kniete in der Einsamkeit des Heiligtums, unter dem rötlichen Schimmer des Mondes. Ihr Herz hämmerte, sie keuchte beim Atmen. Sie spürte den harten schmerzhaften Druck des Ringes an ihrem Finger. Mühsam streifte sie das Schmuckstück ab. Sie benötigte den Ring jetzt nicht mehr, denn der Stein hatte gesprochen.
Der Dunst aus den Räucherpfannen hatte sich verflüchtigt. Die Holzkohle war am Verglimmen. Nach und nach atmete Zena wieder ruhiger. Sie fror und schwitzte zugleich und ihr Mund war trocken. Fröstelnd kauerte sie vor dem Steinblock. Sie wusste: DrauÃen vor dem heiligen Bezirk warteten die Amazonen voller Sorge. Aber sie konnte ihrem Volk noch nicht gegenübertreten, nicht bevor sie in ihrem Geist die Botschaft des Steins gedeutet hatte.
Sehr viel später - der Mond neigte sich schon dem Horizont entgegen
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