Zwei Sonnen am Himmel
war. Jeden Morgen hatte das Mädchen mit ihrem Daumennagel eine Kerbe ins wurmstichige Holz der Wand gegraben, um die Tage zu zählen. Zweimal täglich hatte man ihr frisches Wasser und etwas Nahrung gebracht. Doch der junge Offizier hatte sie nicht wieder aufgesucht. Isa wunderte sich nicht darüber. Sie dachte nur noch flüchtig an ihn. Pausenlos grübelte sie über ihr Missgeschick nach. Nicht im Traum wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass ihr jugendliches Ungestüm zum gröÃten Teil Schuld an ihrer Gefangenschaft trug. Doch diese Vorstellung war für eine Amazone ihres Ranges unmöglich! Zufall? Für Isa gab es keinen Zufall. Was sich ihrem Willen und ihrem Verstand entzog, war das Werk böser Geister und rachsüchtiger Mächte. Aber wodurch hatte sie ihren Zorn heraufbeschworen? Isa zermarterte sich das Gehirn, doch keine unheilvolle Handlung oder Geste fiel ihr ein. Wahrlich, es musste ein böser Zauber sein, der ihr diese unsägliche Schande zugefügt hatte!
Seit dem Morgengrauen wusste sie es: Das Schiff hatte seine Fahrt verlangsamt. Durch die Wände des Kielraums hatte sie den veränderten Takt der Hammerschläge, der den Rhythmus der Ruder bestimmte, vernommen. Die Reise ging ihrem Ende entgegen.
Die rauen Worte des Wächters riefen bei Isa nicht einmal ein Wimpernzucken hervor. Die Ketten rasselten, als sie sich, steif geworden durch ihre Bewegungslosigkeit, mühsam aufrichtete. Der Wächter packte sie am Arm und zerrte sie vorwärts. Isa strauchelte, aber dann wurde ihr Schritt fester. Trotz des Gewichts der Ketten hielt sie sich sehr gerade. Im Halbdunkel durchquerten sie den Schiffsraum. Der Wächter stieà sie die Treppe hinauf, die an Deck führte. Isa erklomm ungeschickt eine Sprosse nach der anderen. Tief atmeten ihre Lungen die belebende Meeresluft ein; sie spürte, wie ihre verkrampften Muskeln sich lockerten. Plötzlich, wie ein Schlag, traf sie das flimmernde Sonnenlicht. Isa taumelte; ohne den harten Griff des Wächters wäre sie gefallen. Doch schon hatte sie sich wieder in der Gewalt und stand aufrecht. Ãber ihr leuchteten die purpurnen Segel, die unter der warmen Liebkosung des Windes bebten.
Isa klammerte sich an die Reling. Ihre Haut prickelte. Verwirrt und geblendet lieà sie ihre Blicke umherschweifen. Der »Riese« fuhr in einen halbmondförmigen, nach Osten sich öffnenden Hafen ein, in dem unzählige Schiffe vor Anker lagen: Pirogen, Fischerbarken und eigenartig geformte FlöÃe glitten wie Wasserschlangen zwischen prunkvollen Galeeren dahin, deren Bug mit Gold und Elfenbein verziert war. Sie wichen zur Seite, um dem »Riesen« Platz zu machen, der mit langsamer Fahrt auf die Mole zusteuerte. Das Wasser kräuselte sich in unzähligen feinen Wellenbändern, gepunktet und gestreift von Lichtreflexen. Alle Krieger hatten sich auf dem Vorderschiff versammelt. Isa erkannte den Admiral, der oben auf der Brücke stand. Er trug einen schweren goldenen Mantel. Ein ebenfalls goldenes Netz bedeckte seinen schwarz gelockten Bart.
Die Stadt war rings um den Hafen angelegt. Die Häuser, vier oder fünf Stockwerke hoch, drängten sich am flachen Hang der Berge, zogen sich bis ans felsige Ufer hin. Die unzähligen Dächer, mit türkisfarbenen Ziegeln bedeckt, türmten sich übereinander wie glitzernde Wellenkämme. Terrasse reihte sich an Terrasse. Dunkelrot oder leuchtend blau bemalte Säulen dehnten sich im Morgenschatten; Isa sah groÃe Hallen und Vorbauten, schön geschwungene Portale, hinter denen sich üppige Gärten verbargen. Die Spitzen der Zypressen ragten wie grüne Lanzen über die ockerfarbenen Mauern.
Der Anblick verschlug Isa den Atem. Zwar hatten gelegentlich Reisende, welche die Insel der Amazonen aufsuchten, von Poseidonis berichtet, doch Isa hatte sich alles in den ihr bekannten MaÃstäben vorgestellt. Jetzt ging es ihr ähnlich wie einer Ziegenhirtin, die von den Bergen heruntersteigt und zum ersten Mal eine Stadt sieht!
Die Mole, auf der sich Menschen bewegten, kam immer näher. Zwischen den Lagerschuppen und den Silos wimmelte es von Seeleuten, Fischern und Arbeitern. Unzählige Schaulustige drängten sich an der Hafenmauer, um die Einfahrt des »Riesen« zu beobachten. »Das ist Poseidonis«, sagte hinter Isa eine Stimme, deren Klang ihr vertraut vorkam, und sie wandte den Kopf. Sie hatte sich immerhin so weit
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