Zwei sündige Herzen: Roman (German Edition)
vorbeifuhr. Ungemein gutaussehend, ich sag’s Ihnen! Er öffnete den Kutschenverschlag und nannte mich ein hübsches kleines Ding. Dann fragte er, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm nach London zu fahren. Wieso eigentlich nicht, dachte ich bei mir. London hatte ich mir schon immer anschauen wollen, welches Mädchen hätte das nicht gewollt?« Sie legte die Stirn in Falten. »Wo ist der Tee?«
Meredith reichte ihr die Dose mit dem Tee.
Cora zog die Unterlippe zwischen die Zähne, ähnlich einem Kind, das sich auf eine Aufgabe konzentrieren muss, und gab Teeblätter in die Kanne. Sie war eine eigenartige Mischung aus Mädchen und Frau. Meredith schwankte, was ihr mehr widerstrebte: das Unschuldige an Cora oder ihre Weltläufigkeit.
»Also fuhren Sie mit ihm nach London«, schloss sie, insgeheim verwundert, dass sie die Geschichte überhaupt interessierte.
»Ich fuhr mit ihm nach London. Und als ich dort ankam, war ich eine Dirne. Der feine Herr setzte mich in Covent Garden ab und steckte mir einen Shilling zu.« Nach einem beiläufigen Schulterzucken übergoss sie die Teeblätter mit kochendem Wasser und ließ sie ziehen.
»Wie alt waren Sie da?«
»Dreizehn.«
Meredith japste auf. »Oh nein!«
»Oh doch. Dreizehn und allein gestellt auf dieser Welt, ohne jedwede Aussicht, auf andere Weise mein Brot zu verdienen, ohne Geld für die Heimfahrt … Ich glaubte ohnehin nicht, dass meine Mutter mich zurückhaben wollte.« Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, derweil sie in die Teekanne spähte. »In Letzterem irrte ich jedoch. Als ich meine Mom letzten Monat besuchte, erzählte sie mir, dass sie jeden Tag für mich gebetet hat.«
»Zweifellos hat sie das.« Meredith stocherte mit dem Schürhaken in dem Feuer herum. Rauch stieg ihr in die Augen, ein willkommener Vorwand, um eine Träne zurückzublinzeln. Die Geschichte des Mädchens war wahrlich anrührend. Sogleich waren ihre mütterlichen Instinkte geweckt. Das Three Hounds schien Menschen wie Cora nachgerade magisch anzuziehen, ungeliebte Geschöpfe auf der Suche nach Verständnis und Zuneigung. Erst Gideon, dann Darryl. Und jetzt dieses Mädchen.
Sie nahm Cora das Geschirrtuch fort, weil sie die Wecken aus dem Backofen nehmen musste. »Wie alt sind Sie jetzt?«
»Achtzehn, Ma’am. Und ich möchte nicht wieder in dieses alte Leben zurück, so wahr mir Gott helfe! Bitte, geben Sie mir eine Aufgabe, Mrs. Maddox. Wenn ich dann von hier fortgehe, habe ich vermutlich bessere Aussichten auf eine andere Beschäftigung. Vielleicht erklären Mr. Bellamy oder Lord Ashworth sich bereit, mir ein Empfehlungsschreiben mitzugeben, damit ich eine Anstellung als Stubenmädchen finde. Dann könnte ich meiner Mutter von Zeit zu Zeit etwas Geld schicken, und sie bräuchte sich keine Sorgen zu machen, wo es herstammt.«
»Wie ich sehe, haben Sie alles durchdacht.«
»Ich hab die halbe Nacht wachgelegen, Ma’am. Deswegen hab ich heute Morgen auch verschlafen.«
Meredith bot ihr einen von den frisch gebackenen Wecken an, den Cora eilig nahm – und entsetzt aufkreischte, als sie sich daran empfindlich die Fingerspitzen verbrannte. Meredith lächelte über den Jonglierakt, den sie daraufhin vollführte, und über ihr mädchenhaftes Kichern.
»Gibt es Marmelade?«, fragte sie hoffnungsvoll, und eine verlegene Röte stieg in ihre Wangen.
»Ja. Ja, gewiss. Und auch Honig.« Und wenn sie Gideon das nächste Mal sah, nahm Meredith sich fest vor, ihn darum zu bitten, ein bisschen Schokolade zu besorgen.
Während sie sich an den heißen Töpfen zu schaffen machte, sann Meredith darüber nach, wie es ihr mit achtzehn ergangen war. Damals hatte sie sich bereits um ihren behinderten Vater kümmern und Geld verdienen müssen. Sie war verzweifelt und hungrig gewesen. Ihrem Vater und ihrer geliebten, viel zu früh dahingeschiedenen Mutter war es zu verdanken, dass sie die Schule besucht und etwas gelernt hatte. Zuweilen trug sie sich mit dem Verdacht, dass Maddox sie bloß aus Mitleid geheiratet hatte. Vielleicht auch einfach, weil sie lesen, schreiben und besser rechnen konnte als die meisten anderen im Dorf. Gewiss besser als Maddox selber.
Sie hatte Glück gehabt. Cora hingegen war schon im Alter von dreizehn Jahren auf sich allein gestellt gewesen, ohne Freunde, ohne Schulbildung, mittellos und in einer ihr fremden Stadt, nachdem das naive, unerfahrene Mädchen von einem vorüberfahrenden »Gentleman« in einer eleganten Kutsche auf primitivste Weise zur Frau gemacht worden
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