Zwei Toechter und drei Hunde
Er hat angebissen. Seine Augen funkeln diskussionslustig. Er läßt Margots Hand los und setzt sich neben mich.
»Unser eigentliches Ich«, antworte ich. »Das, worauf’s eigentlich ankommt und das unabhängig und unsterblich ist.«
»Wie würden Sie es definieren?« Er sieht aus wie ein Untersuchungsrichter. Von dem möchte ich nicht geprüft werden! Vielleicht hat Margot doch recht.
»Nun«, sage ich, »ich — hm — ich meine, die Art und Weise, wie man mit all diesen Sachen fertig wird, mit Vater, Mutter, Milieu und dem, was einem so zustößt.«
Darüber denkt er tief nach, und ich beobachte derweilen Margot, wie sie unter dem Tisch nach der Flasche sucht. Als sie meinen Blick bemerkt, grinst sie ziemlich blöd und tröstet sich mit Ei und Sardellen. Inzwischen ist Zimmermann zu einer Entscheidung gelangt: »Das, was Sie als das eigentliche >Ich< bezeichnen, ist von keiner Seite her faßbar und selbst bei verständnisvollster Auslegung absolut immateriell.«
»Eben deshalb ist es unsterblich«, sage ich, krampfhaft bemüht, ihn bei der Stange zu halten. »Wäre es irgendwie faßbar, wie Sie sich ausdrücken, könnte es nicht unsterblich sein.«
»Aber...«
»Es hat sogar eine Parallele in der Atomphysik. Verstehen Sie was davon? Ich nämlich auch nicht. Aber ich habe da in einem Buch über sogenannte Neutrionen gelesen — nicht zu verwechseln mit den Neutronen, die ja >faßbar<, also meßbar sind.«
Zimmermann greift wieder zum Glas, ich auch. Die Flasche ist im letzten Drittel. »Ja?« fragt er gespannt.
»Diese Neutrionen haben praktisch Lichtgeschwindigkeit und demzufolge laut Einstein keine Masse. Sie können mitten durch einen Atomkern fliegen, ohne anzustoßen, und tun das auch, aber bei ihrem Flug bringen sie die Atomsysteme ganz schön durcheinander. Sie kommen aus Universen jenseits des unseren und fliegen auf der anderen Seite wieder hinaus — aus Zeit und Raum — immer mit Lichtgeschwindigkeit und deshalb ewig. So was Ähnliches — wirkend, aber ohne Substanz — ist vielleicht dieses Ich.«
Ich habe mich gewaltig angestrengt, meinem umnebelten Hirn diese Definition samt Parallele zu entreißen. Zimmermann sieht mich begeistert an, hebt dann das Glas: »Wir wollen uns alle duzen, Colonel! Verzeihen Sie — ich bin der jüngere, aber das ist ein ganz besonderer Abend!«
Über diesen Gumpoldskirchner Kurzschluß bin ich zunächst verblüfft. Dann sehe ich Margot an. Sie sitzt erstarrt und angstvoll wie ein Vogel in der Falle. Dann beginnt sich eine gefährliche Falte des Unmuts auf ihrer Stirn zu bilden. Ich aber muß dran denken, wie ich einst einen älteren Freund um das Du bat und abgewiesen wurde. Es war einer der bittersten Tage meines Lebens und fügte mir eine Wunde zu, die nie verheilen wird. So reiche ich ihm die Hand: »Ich heiße Hans.«
»Das weiß ich. Und ich heiße Enrico.«
»Das wiederum weiß ich.«
Er lacht, er ist ganz glücklich: »Und nun — Margot?«
Ich stoße sie unter dem Tisch an. Sie hebt das Glas: »Aber nur für diesen Abend!«
Er überlegt offensichtlich, ob er es mit dem üblichen Kuß versuchen soll, aber etwas in ihrem Blick dringt selbst durch die heiteren Barocknebel des Gumpoldskirchners. So sagt er nur mit einer galanten Verneigung: »Prost, Margot!«
»Prost, Enrico.«
Irgendwie hat sich Kühle ins Zimmer geschlichen. Wir fühlen es beide, Margot so stark, daß sie aufsteht und das Fenster schließt. Nur Enrico ist jetzt restlos selig, und es beginnt bei ihm mit der Sprache zu hapern.
Er wendet sich wieder zu mir. Ich trinke mein viertes Glas aus, er sein achtes. Wir kommen von der Genesis auf die Upanischa-den, die Bhagawadgita und die esoterischen Traditionen, während Margot, wie ich mit einem Seitenblick bemerke, aus dem Weinglas Hennessy trinkt. Wir werden erst wieder auf sie aufmerksam, als sie sich verschluckt und hustet.
Als sie zu sich kommt, schreit Enrico entsetzt: »Du schielst ja, Kind!«
»Das tut sie immer, wenn sie blau ist«, sage ich und greife unter den Tisch. Die Hennessy-Flasche ist zu einem Drittel leer.
»Ich glauglaube, wir briringen das Kind zu Bett«, meint Enrico.
Margot schlägt die Augen zu ihm auf: »Ich schiele, aber du stottoterst. Ihr seid mindestens so blau wie ich, oder heißt es als — als nur nach Komparativ — ach, müßt ihr wissen, ihr alten Strohbesen, arme kleine Margot ganz vergessen...« Über ihre Wangen rollen Tränen des Selbstmitleids, die Enrico in tiefster Bestürzung betrachtet, und
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